Recherche 25. August 2022, von Anouk Holthuizen

«Die Kreativitiät befällt mich manchmal unter der Dusche»

Interview

Frank Worbs fand durch einen evangelikalen Pfarrer zum Glauben. Heute ist sein Blick auf Religiosität viel facettenreicher. 

Frank Worbs, Ende September steht Ihre Pensionierung an. Wie fühlt sich das an?
Vor einem Jahr freute ich mich noch viel mehr, aber das wird von Woche zu Woche weniger. Ich denke viel über die nächste Lebensphase nach. Plötzlich wird der strukturelle Rahmen durch die Arbeit – ich war zuletzt 80 Prozent tätig – wegfallen. Es wird keinen grossen Unterschied mehr machen, ob es Sonntag oder Montag ist.

Beunruhigt Sie der Gedanke an das «Danach»?
Von einem Tag auf den anderen wird niemand mehr anrufen, der nach meinen Kompetenzen fragt. Ich verliere eine Rolle, eine Position in dieser Gesellschaft, und da taucht natürlich die Frage auf: Was macht mich aus, wofür bin ich noch da? Damit möchte ich mich bewusst auseinandersetzen. Ich werde vorerst keine grossen Aufträge im alten Kontext annehmen. Ich will in der Ruhe lernen, auf die innere Stimme zu hören, die mir sagt, was jetzt noch wichtig ist in meinem Leben, wozu ich auf der Welt bin. 

Auf die Welt kamen Sie in Deutschland. Dort studierten Sie erst Theologie, bevor Sie in die Schweiz umsiedelten. Wie kamen Sie zum Glauben? Meine Eltern waren nicht sehr religiös, aber Mitglieder der evangelischen Kirche. Ich besuchte den Religionsunterricht und liess mich konfirmieren, ohne das mir das viel sagte. Erst danach fand ich zu einem persönlichen Glauben. Nach der Konfirmation ging ich in eine kirchliche Jugendgruppe, die von einem evangelikalen, missionarischen Pfarrer geleitet wurde. Er begeisterte mich für den Glauben, und ich übergab mein Leben Jesus.

Später distanzierten Sie sich von der evangelikalen Bewegung. Wie kam das?
Bevor ich mit dem Theologie-Studium begann, machte ich ein Praktikum bei der Stadtmission in Westberlin. Bereits dort realisierte ich, dass es nicht nur bekehrte oder nicht bekehrte Christen gab, sondern viele Formen von Christsein. Mein Weltbild, das vorher eher schwarz-weiss war, erhielt viel mehr Farben und Schattierungen. In dieser Zeit missionierte ich mit dem Erweckungsprediger Ulrich Parzany auf den Strassen von Berlin und lernte in einer christlichen Teestube beeindruckende Menschen und Schicksale kennen, Menschen, die mir ganz neue Perspektiven auf das Leben und den Glauben eröffneten.

Welchen Einfluss hatte das Theologie-Studium auf Ihren Glauben?
Durch die geschichtliche Betrachtung der Gottheiten und Offenbarungsgeschichten in den Religionen wurde die menschlichen Formen von Religionen viel relativer. Plötzlich wird das, was du bisher einzigartig fandest, in einen grossen kulturgeschichtlichen Kontext gestellt. Warum sollte also eine Offenbarung die einzig wahre sein? Was war mit all den Geschöpfen Gottes, die in anderen Kulturen und Zeiten lebten, die nie etwas davon mitbekommen hatten? Mich sprachen schon zu Beginn des Studiums die Gedanken des grössten Theologen des 19. Jahrhunderts, Friedrich Daniel Schleiermacher, besonders an: Religion ist nicht Metaphysik oder Moral, also nicht eine bestimmte Lehre oder Weltanschauung.  

Sondern was?
Die Anschauung und das Gefühl für das Unendliche. Religion gibt es nicht ohne eine tiefe innere Berührung, die sich in Worten nicht fassen lässt. Oder einfacher gesagt: Religion ist im Grunde die berührende Entdeckung, dass ich Teil von etwas Grösserem bin. Diese Entdeckung in ihren verschiedenen Facetten beschäftigt mich bis heute. 

Warum hingen Sie nach zwölf Jahren Ihren Beruf als Pfarrer an den Nagel?
Pfarrer sein ist einer der vielfältigsten Berufe, die es gibt. Aber man ist eine öffentliche Person. Die Leute im Dorf wissen, wie du deine Kinder erziehst, wann du ins Bett gehst, wie oft du den Rasen mähst. Das fand ich auch für unser Familienleben sehr anstrengend. Zudem spürte ich, dass das zentrale christliche Narrativ, welches früher auch mein eigenes war, wonach Jesus der eine und einzige Sohn Gottes ist, der für unsere Sünden gestorben ist, um uns vor dem Tod zu erretten, in der heutigen Gesellschaft seine Bedeutung verloren hat – zumindest in Europa. Mir war wichtiger, dass die Menschen durch Predigten und Impulse inspiriert werden, in ihrem Innersten die Berührung mit dem Unendlichen zu entdecken.

1998 wurden Sie Leiter Kommunikation der Reformierten Landeskirche Aargau, das Sprachrohr der Aargauer Kirche. Bis heute sprechen Sie kein Schweizerdeutsch. War das jemals ein Thema?
Nein, zumindest hat es niemand gesagt. Ich verstehe ja fast alle Dialekte problemlos vom Berner Oberland bis ins St. Galler Rheintal. Aber die in Norddeutschland übliche Form der Artikulation, vorne zwischen den Zähnen, passt einfach nicht zur Artikulation der Schweizer Mundart, die weiter hinten, im Rachen stattfindet. Und die Vertrautheit mit der schriftdeutschen Form der Sprache ist in der Kommunikation sehr wichtig, weil es auf eine präzise Ausdrucksweise ankommt.

Sie haben diese Arbeit 24 Jahre lang gemacht. Welches waren Ihre Glücksmomente?
Das waren eigentlich drei Sachen: die Öffentlichkeitskampagnen wie «Kirchenglücksspiel» oder «Ist Fussball alles, woran Sie glauben?», besondere Events wie der erste Kongress im KuK Aarau zum Thema verändertes Altern und Sterben mit über 300 Gästen, den ich geleitet habe, und schliesslich das Herausgeben und Mitverfassen von Büchern. Das fing an mit «Wenn Frauen Kirchen leiten», in dem wir zwölf Präsidentinnen von Kantonalkirchen porträtierten, bis zum letzten Buch «Schlaflos brennen die Wörter», worin Autoren in sehr kreativen Formen über die Reformation im Aargau und ihre Wirkungen bis heute schrieben.

Sie organisierten auch ein halbes Dutzend interkantonale kirchliche Kampagnen mit, häufig kamen die Impulse von Ihnen. In welchen Momenten befallen Sie kreative Ideen? 
Manchmal unter der Dusche, meistens aber im Gespräch mit anderen. Bei den Kampagnen kamen sie vor allem von den Agenturen, die sie für uns entwickelten. Ich habe viel Freiraum und ein Umfeld im Kirchenrat und den Landeskirchlichen Diensten, das offen auf meine Ideen und die Vorschläge der kreativen Fachleute reagiert. Meine Arbeit war immer eine Mischung aus Kreativität, neuen Entwicklungen und Alltäglichem wie der Redaktion des «a+o» oder Medienmitteilungen verfassen. Diese Abwechslung ist der Grund, dass ich meine Arbeit bis zum letzten Tag unglaublich gern gemacht habe. 

Welche waren die schwierigsten Momente?
Das waren zwei Fälle von anspruchsvoller Krisenkommunikation. In zwei Kirchgemeinden wurde Pfarrern Übergriffe vorgeworfen. Im einen Fall wurde ich von den Medien überrumpelt. Ich wusste noch gar nichts davon, als das Gericht die Anklageerhebung publizierte, weil die betroffene Kirchgemeinde uns nicht rechtzeitig informiert hatte. Aber grundsätzlich bin ich wohl einer der wenigen in der Kirche, der Krisen auch etwas Positives abgewinnen kann. In solchen Momenten hat die Kirche am meisten Raum und Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, um über das zu reden, was sie ausmacht. Zum Beispiel kann man in Konfliktsituationen gut zeigen, mit wieviel Herzblut und Engagement die Menschen in der Kirchgemeinde mitarbeiten.

Welche Elemente kann eine Kirche nach aussen kommunizieren, was muss sie «verkaufen»?
Kommunikation hängt ja immer von den Produkten ab, die ein Unternehmen anbietet. Das macht es bei der Kirche ziemlich kompliziert, denn sie bietet sehr unterschiedliche Produkte für verbundene und distanzierte Mitglieder, für Nicht-Mitglieder und für die Öffentlichkeit an. Für mich sind diese vier wichtig: spirituelle oder religiöse Erlebnisse, Orte für Spiritualität und Gemeinschaft, Begleitung und Rituale in besonderen Lebenssituationen und der soziale Einsatz für diese Gesellschaft und für Menschen in schwierigen Zeiten. Das zu bewerben, ist aber nicht einfach, denn Spiritualität und Frömmigkeit wird ganz individuell und unterschiedlich erlebt. Vielleicht sollten die Kirchen einmal eine Kampagne zum Thema Engelsgeschichten machen: Menschen erzählen, wo und wie sie eine Begegnung mit Engeln erlebt haben. Das wäre sehr anschlussfähig an die heutige Spiritualität.

Die Reformierte Kirche mischte sich in den letzten Jahren auch in politisch umstrittenen Themen ein: Sie zeigte Präsenz bei den Klimastreiks, in der Migrationspolitik und in der Konzernverantwortungsinitiative. Das passt nicht allen. Manche finden, die Kirche müsse sich raushalten. Was ist Ihre Haltung?
In diesem Bereich habe ich etwas gelernt: Die politische Kommunikation ist für die Kirche zwar ein wichtiges Feld, sie kann dort aber nichts gewinnen. Die Leute freuen sich vier Mal, wenn die kirchliche Stellungnahmen sie in ihrer Haltung unterstützen. Ist ihre Kirche beim fünften Mal anderer Meinung, treten sie aus. Mit politischer Kommunikation produzieren wir Austritte, aber keine Eintritte. Deshalb muss die Kirche sich gut überlegen, bei welchen Themen sie sinnvoll mitreden kann. Sie sollte Argumente beisteuern, keine Abstimmungsempfehlungen geben – wie sie bei der KOVI-Initiative getan hat. Dennoch muss die Kirche in politischen Fragen mitreden. Sie sagt, Gott liebt diese Welt und hat sie geschaffen, darum muss sie sich auch zu Menschenwürde und der Botschaft Jesu äussern, sonst ist sie nicht glaubwürdig.

Und wie kann sie Eintritte generieren?
Das ist sehr schwierig. Wichtiger ist es, dass die Kirche dafür schaut, dass sie ihre Mitglieder, vor allem die distanzierten, nicht verliert, und dazu müssen wir die Beziehungen zu ihnen besser pflegen und speziell den distanzierten mehr Dankbarkeit und Wertschätzung zeigen. Das ist in den letzten Jahren eine meiner Hauptaufgaben geworden. Dafür haben wir das Programm «Lebenslang Mitglied bleiben» mit 25 Massnahmen für Kirchgemeinden entwickelt, um vor allem jene zu erreichen, die immer noch Mitglied sind, sich aber selten in der Kirche sehen lassen.

Trotz allen Bemühungen sinken die Mitgliederzahlen, und zwar schnell. Wie ist das für Sie? 
Das ist frustrierend, aber das ist wohl Teil einer gesellschaftlichen Entwicklung in Mitteleuropa, die sich auch auf viele andere Bereiche auswirkt. Ich denke nicht, dass die Kirche so viel falsch gemacht hat, dass die Leute aus bestimmten Gründen austreten – abgesehen von den Missbrauchsskandalen. Es hat mit einer gesellschaftlichen Entwicklung zu tun. Und mit der schwindenden Relevanz der christlichen Botschaft. Menschen interessieren sich heute anders für Religion als früher – oder gar nicht mehr. Dieses innere Bedürfnis orientiert sich nicht mehr nur an vorgegebenen oder tradierten Religionen. Meine Kinder zum Beispiel sind zwar religiös interessiert, sie würden aber niemals Mitglied einer religiösen Organisation werden wollen.

Wird es die Kirche in 30 Jahren noch geben?
Ich fürchte, dass sich das Bewusstsein und das Interesse für Religion in unserer Gesellschaft so stark verändert, dass die Institution Kirche in 20 bis 30 Jahren keinen gesellschaftlich relevanten Platz so wie heute mehr einnehmen wird. Sorgen machen mir dabei nicht nur der Mitgliederschwund und die Überalterung, sondern auch dass immer weniger Menschen sich für das Theologiestudium und das Pfarramt interessieren. 

Und was macht Sie selbst zum überzeugten Reformierten?
Das Tolle an der reformierten Konfession ist: Es ist die «unmagischste» Religion, die es gibt. Sie manipuliert Menschen nicht mit Mysterien und Heilsversprechen, redet nicht mehr von Sünde und Hölle. Sie fördert die intellektuelle und religiöse Emanzipation der Gläubigen und erwartet vom Einzelnen, die Wahrheit selbst zu entdecken und zu prüfen. Sie präsentiert sich eher zurückhaltend und karg und bietet nur wenige Rituale oder glanzvolle Zeremonien. Das macht sie auch etwas anstrengender und einseitig intellektuell. Deshalb ist es auch schwieriger, die reformierte Kirche zu bewerben oder in die Medien zu bringen. Sie ist einfach weniger spektakulär, aber damit auch glaubwürdiger. Deshalb habe ich sie so gern.