Recherche 24. August 2020, von Thomas Illi

«Ich glaube nicht an dunkle Mächte»

Heilung

Die ehemalige Zürcher Kirchenrätin Anemone Eglin praktiziert Handauflegen nach christlicher Tradition. Manchmal geschieht dabei Heilung, eine Befreiung von Schmerz und Krankheit.

Frau Eglin, Sie praktizieren Handauflegen, sind auf dem Gebiet der Heilung tätig. Was muss man sich darunter vorstellen?

Ich fasse Heilung sehr weit auf. Vielleicht stellt man sich unter Heilung etwas Spektakuläres vor, dass jemand von Krebs oder einer anderen schweren Krankheit geheilt wird. Dass man hier rausgeht und geheilt ist. Manche Menschen gehen davon aus, aber das ist ein wenig wundersüchtig. Die meisten Leute haben diese Erwartung aber nicht. Für mich ist Heilung ein Prozess. Beim  Handauflegen öffnen wir - das heisst die behandelte Person und ich - uns für eine transzendente Dimension, die über das Zwischenmenschliche hinausgeht. Durch diese Öffnung für eine heilende göttliche Kraft kann ein Impuls für einen Heilungsprozess gesetzt werden.

Mit welchen Problemen suchen Menschen Sie auf?

Zu mir kommen meistens Leute mit körperlichen Anliegen, einige mit seelischen. Sie sind beispielsweise erschöpft, von Ängsten bedrückt oder in einer krisenhaften Lebenssituation, die eine Entscheidung erfordert. Der Heilungsimpuls kann auf drei verschiedene Ebenen aufgenommen werden: Es kann eine körperliche Verbesserung eintreten, meistens nicht schon nach einem Mal. Häufig ist eine Wirkung auf psychischer Ebene zu beobachten; Handauflegen ist eine intensive Form von Zuwendung, wodurch Menschen sich geborgen und aufgehoben erleben. Oft schildern Leute auch Erfahrungen auf spiritueller Ebene: Sie sagen etwa, dass sie wieder einen Zugang zu ihrem Urgefühl gefunden haben. Man könnte das so interpretieren, dass sie Zugang  zu ihren inneren Ressourcen, psychisch oder spirituell, gefunden haben. Das ist natürlich heilend.

Wo stehen Sie damit theologisch?

Ich verstehe mich in der heilenden Tradition der Kirche. Sie stützt sich auf die biblischen Grundlagen von Heilen und Handauflegen, wie es Jesus, die Apostel und viele andere praktiziert haben. In den christlichen Gemeinden wurde das Handauflegen über Jahrhunderte weitergepflegt. Es wurde sogar als Christenpflicht aufgefasst, Kranken die Hände aufzulegen und um die heilende Kraft Gottes zu bitten. Luther hat es empfohlen, es ist also auch reformatorisch abgestützt. Die heilende Kraft verstehe ich als Segenskraft, das Handauflegen als Spezialform des Segnens, eine Ausweitung des Segensrituals.

Zählt Ihre Form des Heilens zu den charismatischen Heilungsdiensten?

Nein. Es gibt drei verschiedene Modelle, auf die sich Heilungsdienste stützen: Eines ist das charismatische. Es geht davon aus, dass Heilung an eine besondere Begabung geknüpft ist, die nicht allen Menschen eigen ist. Biblische Grundlage für dieses Modell ist 1. Korinther 12. Ich dagegen stütze mich auf Markus 16, 17-18: «Denen aber, die zum Glauben kommen, werden diese Zeichen folgen: … Kranke, denen sie die Hände auflegen, werden gesund werden.» Unter dieser Verheissung stehen alle Menschen, die zum Glauben kommen. Das dritte Modell ist das Amtsträgermodell gemäss dem fünften Kapitel des Jakobusbriefs, das die Heilungsbefähigung den Gemeindeältesten zuweist.

Es wurde sogar als Christenpflicht aufgefasst, Kranken die Hände aufzulegen und um die heilende Kraft Gottes zu bitten.
Anemone Eglin

Ergibt sich daraus eine Abgrenzung zu den sogenannten Befreiungsdiensten? Georg Otto Schmid geht ja davon aus, dass charismatische Heilungsdienste immer auch Befreiungsdienste umfassen.

Was heisst «Befreiungsdienste»? Wenn man von «Befreiungsdiensten» spricht, setzt man sogleich irgendwelche dunklen Mächte voraus. Aber wenn jemand mit Schmerzen kommt, und die Schmerzen lassen nach, ist das auch eine Befreiung. Jeder heilende Prozess ist ein Prozess der Befreiung. Oft verbessert sich bei Schmerzen zudem die Schmerzinterferenz, also die Beeinträchtigung der Alltagsaktivitäten durch die Schmerzen. Die Stärke des Schmerzes bleibt allenfalls dieselbe, doch die Milderung der Beeinträchtigung ist eine Befreiung. Es gibt also eine Befreiung ohne dunkle Mächte. Wichtig ist mir: Ich selbst kann gar nichts bewirken, ich kann weder heilen noch befreien. Ich sage den Menschen: Wir öffnen uns beide bewusst für die heilende Kraft und vertrauen darauf, dass sie zum Guten wirkt. Wie das geschehen wird, wissen wir nicht. Ich kann auch nichts erzwingen, ich stelle mich einfach zur Verfügung, wie ein Instrument, quasi wie das Wasser bei der Taufe. Ich selbst spreche nicht von Befreiung, ich würde nie sagen: Ich kann Sie befreien. Aber selbstverständlich ist jede Verbesserung ein Stück mehr Freiheit.

Eine Sucht ist doch – ohne dass man von Dämonen spricht – eine Form der Besessenheit: Ich bin in einer Sucht gefangen, etwas hat mich im Griff. Und wenn ich davon loskomme, bin ich befreit von etwas, das mich in einem bösen Griff gehalten hat.

Ja. Man kann sich selbst subjektiv so erfahren, dass man das Gefühl hat, man sei einer «Macht» ausgeliefert, zum Beispiel einer Sucht, oder einem Gedankenkarussell. Wenn es aber darum geht, ein Phänomen zu interpretieren, wäre ich sehr vorsichtig, das als «dunkle Mächte» zu bezeichnen. Meiner Erfahrung nach sind das in aller Regel psychische Probleme. Natürlich fühlt man sich gefangen, aber da würde ich nicht von «dunklen Mächten» sprechen. Ich glaube sowieso nicht an dunkle Mächte.

Dann ist es eine Interpretationsfrage? Man kann ein Phänomen so oder anders interpretieren?

Genau. So sehe ich das. Auch der emeritierte Basler Weihbischof Martin Gächter, ein Spezialist für katholische Befreiungsdienste, meinte an einer Tagung, ‘echte’ Besessenheit sei äusserst selten. Entweder handle es sich um körperliche Probleme, die Phänomene wie zum Beispiel Halluzinationen auslösen können, oder aber um psychische Probleme oder zwischenmenschliche Konflikte. Je nach Ursache sind die Probleme anders anzugehen: medizinisch, psychologisch oder als Konfliktberatungen. Die Vorstellung «böser Mächte» setzt ein dualistisches Weltbild voraus: Einer guten Macht steht eine böse gegenüber. Ich teile dieses dualistische Weltbild nicht. Ich gehe davon aus, dass die Welt von einem guten Geist durchwirkt ist. Natürlich gibt es sehr viel Durcheinander, viel Heilloses auf dieser Welt. Doch das schreibe ich nicht einer Gegenmacht zu. Es gehört zu unseren Begrenzungen und ist letztendlich in einem guten Geist aufgehoben. Ich bete ja am Anfang einer Behandlung ein Heilgebet, laut oder leise, in dem ich um Gottes heilende Kraft bitte. Sie ist es, die wirkt. Und sie ist es, die uns – sollte es dunkle Mächte geben – vor ihnen schützt. Bei Vorträgen werde ich oft gefragt, wie man sich vor negativen Energien schützt. Für mich ist es das Gebet. Allerdings haben wir Menschen schon die Fähigkeit, anderen Menschen Böses anzutun. Darum finde ich es wichtig, sich bewusst immer wieder auf das Gute auszurichten, auf das, was die Seele nährt und dem Zusammenleben guttut. Das kann ganz einfach sein. Ich schütze mich zum Beispiel, indem ich keine brutalen Filme anschaue. Brutale Bilder bleiben haften, ich will mich nicht daran gewöhnen.

Natürlich gibt es sehr viel Durcheinander, viel Heilloses auf dieser Welt. Doch das schreibe ich nicht einer Gegenmacht zu.
Anemone Eglin

Die alte Frage: Wie entsteht das Böse?

Ja, eine schwierige Frage. Ich weiss nicht, ob es überhaupt sinnvoll ist, nach der Ursache des Bösen zu fragen. Ich glaube, wir haben vielmehr die Aufgabe, das Böse zu bestehen und uns auf das Gute auszurichten. Böses zu tun, ist eine menschliche Möglichkeit, von dunklen Mächten würde ich da nicht sprechen.

Ich spüre bei Ihnen schon eine deutliche Abgrenzung von anderen Ansätzen der Heilung und der Befreiung.

Ich grenze mich nicht ab, sondern ich sage einfach, wie ich das Handauflegen verstehe und praktiziere. Ich bin auch überzeugt davon, dass Herr Weihbischof Gächter, so wie ich ihn kenne, nicht anders arbeitet.

Aber er nennt es anders…

Das hat Tradition in der katholischen Kirche. Auch bei der Heilsarmee. Ich habe an einer Tagung zwei Männer erlebt, die bei der Heilsarmee an einer Befreiung teilgenommen hatten und Zeugnis ablegten. Das hat mich sehr beeindruckt. Es gibt zudem den berühmten Fall der Gottliebin Dittus, die im 19. Jahrhundert vom evangelischen Pfarrer Johann Christoph Blumhardt seelsorgerlich betreut wurde. Das Mädchen litt an Phänomenen, die von Blumhardt als «dämonische Besessenheit» interpretiert wurden. Blumhardt tat nichts anderes, als mit ihr zu beten, zwei Jahre lang. Dann war das Mädchen geheilt. Blumhardt hat sich nie auf irgendwelche «Mächte» eingelassen. Das ist ein eindrückliches Beispiel. Aktuell kenne ich niemanden, der sagt: Ich kämpfe gegen dunkle Mächte. Ich habe auch noch niemanden erlebt, der sich selbst als von dunklen Mächten besessen bezeichnet hat. In der biblischen Welt sprach man von «Dämonen». Ein berühmtes Beispiel ist Antonius, ein ägyptischer Einsiedler im 3. Jahrhundert. Er wird oft dargestellt mit einer Unzahl von Dämonen und Drachen, die über ihn herfallen und ihn bedrängen. Dieser Antonius merkte: Ich selbst füttere diese «Dämonen» mit meiner Angst. Sobald ich keine Angst mehr vor ihnen habe, fallen sie in sich zusammen und tun mir gar nichts. «Dämonen», das ist ein Bild. Heute würde man wohl sagen: Es sind Projektionen eigener Ängste.

Kann man auch sagen: Wenn ich alles Negative in mir auf irgendwelche «Dämonen» abschiebe, stehle ich mich selber aus der Verantwortung?

Dem würde ich zustimmen. Ich bin dann das Opfer, andere sollen mir helfen. Natürlich gibt es psychische Erkrankungen, die man früher mit «Dämonen» in Zusammenhang brachte, wie etwa Schizophrenie oder Multiple Persönlichkeitsstörung. Man darf nicht vergessen: Psychotherapie existiert erst seit rund 120 Jahren.

Was ist, zusammenfassend, Ihr Credo zum Thema Heilung?

Mir ist es wichtig, mich in der christlich-spirituellen Tradition zu verorten. Heilung ist für mich ein Prozess und nicht ein einmaliges Erlebnis. Dieser Prozess hängt nicht von mir ab, ich würde nie sagen: Ich kann Sie heilen. Im Gegenteil, ich würde Menschen davor warnen, solchen Versprechungen zu vertrauen. Ich halte mich an die Verheissung Christi, die für alle Glaubenden gilt: «Kranke, denen sie die Hände auflegen, werden gesund werden» (Mk 16,17f). Mit dem Handauflegen helfe ich Menschen, sich der heilenden Segenskraft bewusst zu öffnen. Das kann einen heilenden Impuls setzen.

Anemone Eglin, 67

Die Theologin, reformierte Pfarrerin und ehemalige Zürcher Kirchenrätin (1999 bis 2008) befasst sich seit rund 30 Jahren persönlich und beruflich intensiv mit Spiritualität. In den Bereichen Psychologie, Spiritualität und Kontemplation absolvierte sie zahlreiche Aus- und Weiterbildungen. Das Handauflegen bei Menschen mit chronischen Schmerzen und bei pflegebedürftigen Menschen erforschte sie in zwei Studien in Zusammenarbeit mit der Universität Zürich. Anemone Eglin war Stabsstellenleiterin Spiritualität und schliesslich Leiterin des Instituts Neumünster im Zollikerberg. Sie wurde einem grossen Publikum auch bekannt als Sprecherin des «Worts zum Sonntag». Heute führt sie an ihrem Wohnort in Winterthur eine Praxis für spirituelle Begleitung und Handauflegen.