Recherche 25. November 2015, von Delf Bucher

«Ein Anschlag auf den Islam selbst»

Terror

Imam Sakib Halilovic trauert nach den Anschlägen von Paris und betont: Der Koran müsse in seinem historischen Kontext ausgelegt werden.

Unmittelbar nach den Anschlägen haben Sie im Grossmünster als Imam ein sichtbares Zeichen gesetzt und in einer christlichen Feier den Opfern des Anschlags in Paris gedacht. Wie kommt dies bei den Muslimen an?

Sakib Halilovic: Sehr gut. Die muslimische Gemeinschaft ist froh zeigen zu können, dass uns angesichts der Gräueltaten in Paris ebenso grosse Traurigkeit befällt.

Sie sind bei jedem Terroranschlag des Islamischen Staates aufgefordert, sich zu distanzieren. Haben Sie damit Mühe?

Natürlich ist es für uns Schweizer Muslime ziemlich frustrierend, sich immer wieder zu distanzieren oder verteidigen zu müssen für etwas, was man nicht selbst gemacht hat und auch nicht unterstützt. Denn der IS-Terror, der den heiligen Namen des Islams missbraucht, ist ein Anschlag auf den Islam selbst.

Die Terroristen berufen sich aber explizit auf kämpferische Koran-Suren.

Das zeigt, wie wichtig es ist, den Koran kontextuell und mit begleitender Literatur zu lesen. Es ist fatal, wenn man einzelne Stellen aus dem historischen Zusammenhang reisst. So kann man alles Beliebige begründen. Man ist verpflichtet, stets die Zusammenhänge zu sehen. Und dafür trägt derjenige, welcher den Koran interpretiert, die Verantwortung.

Das klingt wie ein Plädoyer für eine Imam­ausbildung an Schweizer Universitäten.

Das ist ein grosses Thema, das zu erörtern viel mehr Raum bräuchte. Aber es stimmt: Auch der Koran verlangt nach einer theologischen Ausbildung wie sie katholische und reformierte Seelsorger an den Universitäten erfahren.

Haben Sie oder Ihre Gemeindemitglieder Hassmails oder böse Anrufe erhalten? Nein. Beschimpfungen sind bei uns bis heute keine angelangt. Nur eine junge Dame, die immer Kopftuch trägt, wurde im Tram angepöbelt.

Also insgesamt ein friedliches Miteinander hierzulande. Präsentiert sich die Situation der Schweizer Muslime ganz anders als jene in Frankreich oder Belgien?

Das ist ein riesiger Unterschied. Wir haben keine Ghettos oder Banlieues. Der Zugang zur öffentlichen Schule ist für jedes Kind bei uns garantiert. Zwar gibt es noch immer viele Jugendliche mit Migrationshintergrund, die ziemlich Mühe haben, die gewünschte Lehrstelle zu finden. Aber die Arbeitslosigkeit ist insgesamt gering. Grundsätzlich ist es der Schweiz gelungen, die Menschen zu integrieren – und dies, obwohl ein Drittel unserer Bevölkerung einen Migrationshintergrund hat.

Sakib Halilovic, 50

Der gebürtige Bosnier ist Imam des islamisch-bosnischen Zentrums in Schlieren, ZH. Halilovic engagiert sich im interreligiösen Gespräch und arbeitet in der Arbeitsgruppe für eine Islamausbildung in der Schweiz mit. Foto. Reto Schlatter)