Recherche 28. Juni 2022, von Rita Gianelli

«Ich bin stolz darauf, jenisch zu sein»

Kultur

Eva Moser ist Verwaltungsrätin der Radgenossenschaft. Sie hat die Feckerchilbi in Chur an der Oberen Au mitorganisiert. Zum ersten Mal in Graubünden.

Frau Moser, welche Bedeutung hat für Sie die Feckerchilbi?
Eva Moser: Für uns Jenische ist es eine einmalige Gelegenheit, den Menschen unsere Lebensweise und Kultur vorzustellen.

Für Sie ein Heimspiel, Sie wohnen nicht weit von hier.
Ja, seit 33 Jahren wohne ich mit mei­ner Familie und sieben anderen verwandten Familien auf dem jenischen Platz in Chur, im Industriequartier an der Sommeraustrasse.

In einem Wohnwagen?
Nein, in einem Holzhaus, es sieht ein bisschen aus wie eine Holzbaracke. Doch drinnen haben wir es sehr schön. Mein Mann hat das Chalet gebaut. Ich habe hundert Quadratmeter Wohnfläche.

Sie fahren nicht mehr?
Nein, ohne meinen Mann wollte ich das nicht mehr. Er ist vor sechs Jahren verstorben.

Wie war das, als Sie auf Reise waren im Wohnwagen mit Familie?
Wir hatten unsere Etappen. Die erste war Knonau, dann ging es von Knonau nach Allmendingen, weiter nach Grenchen und schliesslich nach Neuhausen am Rheinfall. Anfangs waren wir in Herblingen, doch dann schlossen sie diesen Durchgangsplatz. Wir blieben zwei Wochen am selben Ort. Tagsüber gingen wir hausieren. Das heisst, wir boten unsere Dienste an: Pfannen flicken, Scheren schleifen, Körbe flechten. Ich habe geholfen Kunden zu finden, die Sachen zu holen und dann wieder zurückzubringen. Unsere Dienste waren gefragt. Einer meiner Söhne ist immer noch Scherenschleifer. Der andere hat Automechaniker gelernt.

Wurden Sie diskriminiert?
Nein, wirklich nicht. Wissen Sie, wenn Sie mit einer Autonummer aus Graubünden fahren, kommt ihnen sofort viel Sympathie entgegen (lacht). Auf einigen Standplätzen mussten wir Depot bezahlen.

Und Ihre Kinder, mussten die nicht zur Schule?
Natürlich. Dazu gaben uns die Lehrpersonen jeweils Hausaufgaben für 14 Tage mit. Alle zwei Wochen fuhr ich nach Chur zurück, um die neuen Hausaufgaben abzuholen. Das klappte super. Unsere Kinder wurden auch nie benachteiligt oder gefoppt, dafür sorgten die Lehrer. Ich muss wirklich sagen, die Stadt Chur setzt sich sehr für uns Jenische ein.

Was bedeutet Ihnen die Religion?
Ich bin katholisch. Ich gehe zwar nicht regelmässig zur Kirche, aber ich glaube an Gott und an Maria. Ich glaube, dass das Leben von etwas Höherem gesteuert wird. Oft spaziere ich auch zur Lourdes-Grotte neben dem Altersheim Bodmer in Chur und zünde eine Kerze an: für meine Familie, für meine Freunde und – jetzt werden Sie lachen – für meine Feinde. Denn wenn es meinen Feinden gut geht, geht es auch mir gut.

Auch die Kirche gehörte einst zu Ihren Feinden. Sie unterstützte den Kanton und Pro Juventute massgeblich beim Entreissen der Kinder.
Das ist wahr. Wir haben jedoch gelernt, damit zu leben. Die Vergangenheit dramatisieren und immer wieder hervorholen ist nicht unser Ding. Wir blicken vorwärts und stehen zu unserer Kultur und unserer Sprache. Ich bin stolz darauf, jenisch zu sein. Ich kann mein Leben leben, wie ich es will.

Viele Jenische fühlen sich zur Kultur der First Nations, der indi­anischen Ureinwohner Nordamerikas und Kanadas hingezogen. Auch Sie haben eine eindrückliche Tätowierung eines indianischen Symbols am Oberarm. Woher kommt diese Verbundenheit?
Genau erklären kann ich das nicht. Ich hatte diese Faszination für die Indianer immer schon. Auch die Indianer sind Nomaden. Wir teilen ein ähnliches Schicksal: Auch sie wurden zwangsassimiliert, Familien zerstört. Mein Vater war sieben Jahre alt, als Pro Juventute ihn abholte. Im Kinderheim musste er hungern. Ich erinnere mich, dass mein Vater uns einmal im Haus eines Verwandten versteckte, weil ein Brief von der Pro Juventute kam, in dem stand, dass man schon wisse, wo wir seien.

Vermissen Sie das Nomadentum, das Fahren?
Ja. Für mich gab es nichts Schöneres, als abends nach der Arbeit beim Lagerfeuer zusammenzusitzen.

Zurück zur Feckerchilbi. Hier in Chur nahmen besonders viele offiziell geladene Gäste teil. Wie erklären Sie sich das?
Es ist ein Zeichen wachsenden Respekts im Kanton. Der Kanton Graubünden hat in den letzten 20 Jahren sehr viel mehr gemacht für Jenische als andere Kantone in der Schweiz, und zwar nicht nur bei der Schaffung von provisorischen Plätzen, sondern auch für fixe Plätze. Ein Beispiel ist der Platz beim Camping Rania in Zillis. Die Regierung versucht jetzt, diesen Platz langfristig zu sichern.

Zahlreiche Gäste

Nie zuvor besuchten so viele offizielle Gäste eine Feckerchilbi. Unter ihnen: Regierungsrat Peter Peyer, der Churer Stadtpräsident Urs Marti, Altregierungsrat Aluis Maissen, Thomas Kollegger, kantonales Amt für Gemeinde, Bruno Caduff, Landbesitzer des Campings Rania, Andi Danuser, Gemeinde Zillis, Reto Riedberger, Landbesitzer eines möglichen Durchgangsplatzes in Landquart, Rosalita Giorgetti, Bundesamt für Kultur, Simon Röthlisberger, Geschäftsführer der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende, ferner Vertreterinnen und Vertreter österreichischer, deutscher und französischer Verbände von Jenischen sowie Sponsoren. Anwesend waren auch die Bündner Kirchenratspräsidentin Erika Cahenzli und Kirchenrat Christoph Zingg. Am Sonntag hielt die reformierte Pfarrerin und Beirätin der Radge­nossenschaft Esther Gisler Fischer einen Gottesdient im Festzelt.

Eva Moser, 64

Geboren in Basel und aufgewachsen im Tessin, spricht Eva Moser Deutsch und Jenisch, fliessend Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch. Sie ist Verwaltungsrätin der Radgenossenschaft, der Dachorganisation der Jenischen und Sinti in der Schweiz.