«Ich bin dankbar für die technischen Möglichkeiten»

Digitale Kirche

Viele Gemeinden produzieren in der Corona-Krise Live-Stream-Gottesdienste. Diese seien wichtig, könnten jedoch nicht die Feier vor Ort ersetzen, sagt Theologieprofessor Ralph Kunz.

Ralph Kunz, ist ein Gottesdienst per Live-Stream theologisch gesehen ein vollwertiger Gottesdienst?

Ja. Nach biblischem Verständnis ist Christus anwesend, «wo zwei oder drei sich in seinem Namen versammeln», wie es im Matthäus-Evangelium (18,20) heisst. Das ist über mediale Formen genauso erlebbar. TV-Gottesdienst gibt es ja schon lange. Trotzdem mag ich nicht in das Hohelied der digitalen Religion einstimmen.

Warum nicht?

Ich bin dankbar für die neuen technischen Möglichkeiten, die uns jetzt über die gröbste Einsamkeit hinweghelfen. Aber die digitalen Formate können niemals den realen Gottesdienst in der Ortsgemeinde ersetzen. In ihnen geht etwas verloren, was der Theologe Kurt Marti die «Körperkirche» nannte. Der Gottesdienst ist nach reformatorischem Verständnis eine leibhaftige Versammlung von Menschen. Die Dimension des Körpers ist sehr wichtig.

Wirklich? Die reformierte Liturgie misst dem Körper keinen grossen Stellenwert zu.

Das stimmt leider. Aber wir sollten nicht unterschätzen, was es bedeutet, wenn wir als Menschen zusammen auf einer Kirchenbank sitzen, die gegenseitige Resonanz spüren und nachher zusammen einen Kaffee trinken. Solche Nähe brauchen wir als Menschen. Social Distancing mag im Moment lebensrettend sein. Aber Religion ist die Unterbrechung unserer üblichen sozialen Distanzierung. Darum können digitale Formate auf die Dauer alleine nicht tragen.

Können Sie den digitalen Angeboten auch etwas Positives abgewinnen?

Natürlich! Digitale Angebote ergänzen die Versammlung in normalen Zeiten, und können sie in Notzeiten ersetzen. Das war schon immer so. Medien überbrücken die Distanz. Früher waren es Briefe, heute haben wir dank Internet ein erweitertes Repertoire an Kommunikationskanälen. Ich spüre bei Pfarrpersonen und kirchlichen Mitarbeitenden ganz viel Liebe und Sorgfalt. Sie wollen mit den Gemeindemitgliedern verbunden bleiben und ihnen etwas geben in dieser sehr schwierigen Situation. Das finde ich grossartig. Über die digitalen Formate können die Zuschauerinnen und Zuschauer in Kontakt bleiben mit den vertrauten Gesichtern der Gemeinde und sich an gemeinsam Erlebtes erinnern. Das Gefühl von Beheimatung wachzuhalten, ist aus meiner Sicht ihre wichtigste Funktion.  

Soll man auch die öffentliche Abendmahlsfeier in der Kirche digital gestalten?

Man kann schon, und wenn manche einen Trost daraus ziehen, soll es ihnen nicht verwehrt sein. Aber ich persönlich würde es nicht machen, weil es für mich eine Verkehrung der Feier wäre. Nach reformatorischem Verständnis ist das Abendmahl eine leibliche Zusammenkunft. Christinnen und Christen feiern es im Gedenken an das letzte Abendmahl Jesu Christi. Das reale Beisammensein ist entscheidend.

Über die digitalen Formate können die Zuschauerinnen und Zuschauer in Kontakt bleiben mit den vertrauten Gesichtern der Gemeinde. Das Gefühl von Beheimatung wachzuhalten, ist ihre wichtigste Funktion.
Ralph Kunz, Theologieprofessor

Man kann sich doch auch in Gedanken mit anderen verbinden.

Ja, aber wer so argumentiert, entfernt sich vom Abendmahlverständnis, wie es für Zwingli leitend war. Für ihn war es entscheidend, dass sich die Gemeinde versammelt, miteinander feiert und Brot und Wein gemeinsam einnimmt. Ein Abendmahl am Bildschirm macht die Feier zur Schau und nimmt ihr damit das Entscheidende: den dreidimensionalen, körperlichen Akt, in dem wir aneinander und miteinander erfahren, dass wir Leib Christi sind. Die sinnliche Dimension ist das Plus des Sakraments. Es ist das, was uns jetzt verwehrt bleibt. Halten wir es aus. Ich meine auch, dieses Abendmahlverständnis sei im Kern dasjenige der Messreform des Vatikanischen Konzils, die – im Einklang mit den Reformatoren – die volle bewusste und aktive Teilnahme in der Feier betonten. Eine zweidimensionale Fernseheucharistie entspricht eher der Vorstellung des tridentinischen Ritus. 

Was schlagen Sie stattdessen vor?

Für mich wäre es naheliegender, das öffentliche Abendmahl während der Corona-Krise bewusst aussetzen, und diese Zeit des Verzichts als ein Fasten zu begreifen.Das entspricht einer alten Tradition in der alten Kirche Palästinas: In der großen Fastenzeit gingen sie nach der gegenseitigen Vergebung vierzig Tage lang ohne Liturgie in die Wüste hinaus; sie setzten nur das Fasten und das Gebet fort, um sich vorzubereiten und am Palmsonntag zurückzukehren. Diese alte Praxis könnte eine Anregung sein für unseren Umgang mit der aktuellen Krise.

In welchem Sinn?

Wir erleben gerade eine erzwungene «Fastenzeit», nach der nichts mehr sein wird wie zuvor. Es gibt ein Leben vor Covid-19 und eines nachher. Wirtschaftlich, existentiell und philosophisch wird sich vieles verändern. Dem könnten wir Rechnung tragen, indem wir uns auf die Rückkehr in die Normalität vorbereiten und jetzt auf das öffentliche Abendmahl verzichten. Ich finde es aber richtig, wenn die Kirche Anleitung gibt, wie eine einfache Abendmahlsliturgie zuhause gefeiert werden kann.

Mit welchem Ziel soll man aufs öffentliche Abendmahl verzichten?

Das Coronavirus trifft uns Menschen an unserer verletzlichsten Stelle, dem Körper. Insbesondere westliche Gesellschaften haben sich der Illusion hingegeben, immer zu den Verschonten zu gehören. Dieser Mythos bricht nun zusammen. Die jetzige Krise könnte eine Gelegenheit sein, unsere Verwundbarkeit zu bedenken. Und um eine Zeitlang etwas nicht zu tun, was wir gerne täten, und mit umso grösserer Freude das Geschenk der «Körperkirche» zu feiern, wenn es wieder möglich ist. Im besten Fall würden Hunger und Durst auf das Abendmahl wachsen.

Ralph Kunz

Kunz ist reformierter Pfarrer und seit 2004 Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich mit den Schwerpunkten Predigtlehre, Liturgik und Seelsorgelehre.

Kirche wird digital

Während der Corona-Krise dürfen keine Gottesdienste stattfinden. Manche Kirchgemeinden führen sonntags zwecks digitaler Vermittlung verkürzte Gottesdienstliturgien in den Kirchen durch. Auch andere Formen wie mehrmals wöchentlich aufgeschaltete Wort- und Bildbeiträge sind auf den Websiten der Gemeinden. 

Verzeichnis der digitalen Angebote: www.ref.ch/digitale-kirchen