Recherche 19. Oktober 2021, von Eva Mell

Lichtmeditation anstelle eines Gebets

Spiritualität

Reformierte Kirchgemeinden im Aargau bieten vermehrt neue spirituelle Erlebnisse an. Dabei kann auch ein klassischer Gottesdienst an Tiefe gewinnen.

Durch meinen Scheitel strömt ein imaginärer Lichtstrahl in meinen Körper, stösst an meine Fingerspitzen und kitzelt meine Zehen. Dann schwappt mein Licht über den Scheitel zurück in die Welt. Ich stelle mir vor, dass es einen grossen Kreis um mich herum bildet, es glitzert und funkelt, ohne zu blenden. Aufrecht sitze ich auf einem Holzstuhl, meine Augen sind geschlossen. Vor mir, hinter mir und neben mir befinden sich in einem Abstand von Corona-gerechten eineinhalb Metern rund 40 andere Personen, die in ihrer Vorstellung das Gleiche tun. Der Gedanke, dass sich wenigstens unser unsichtbares Licht berühren darf, während wir auf Abstand bleiben müssen, rührt mich.

Spiritual Sunday in Arni

Es ist Sonntagmorgen, und ich bin im reformierten Gottesdienst in der Johanniskirche in Arni. Cindy Studer, Pfarrerin der Kirchgemeinde Kelleramt, hat zum Spiritual Sunday eingeladen. Sie betet nicht, und sie segnet nicht. Stattdessen ermutigt sie die Zuhörenden, eine eigene Definition von Spiritualität zu finden. Während der Lichtmeditation gibt sie das Wort der Yoga- und Meditationstrainerin Mariane Steffen. Unter anderem mithilfe von Meditationen will die Pfarrerin es Menschen ermöglichen, in sich hineinzuhorchen. «Sie sollen erkennen, welche Lebensfragen ihnen wichtig sind, und zum Beispiel spüren, dass aus Hoffnungslosigkeit ganz plötzlich Hoffnung werden kann. Das ist eine spirituelle Erfahrung.»
Was gerade geschieht, dürfte für manche Reformierte ungewöhnlich sein. Doch ein Blick auf die Angebote reformierter Kirchgemeinden im Aargau offenbart: Auch andere experimentieren mit neuen Formen wie Meditation, um spirituelle Erlebnisse zu ermöglichen.
Tatsächlich scheinen solche Angebote dem Bedürfnis vieler Menschen zu entsprechen. Gemäss dem Bundesamt für Statistik waren im Jahr 2019 nur noch 23 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer reformiert, Tendenz fallend. 24 Prozent der Befragten übten in den zwölf Monaten vor der Erhebung spi­rituelle Bewegungs- oder Atem­tech­niken aus, Tendenz steigend. Muss die Kirche ihr Angebot entsprechend anpassen, um die Menschen zu erreichen?

«Religiöser Erfahrungsraum»

Es ist nicht einfach, Spiritualität genau zu definieren. In den Gesprächen mit Pfarrpersonen und Forschenden für diesen Beitrag gibt es einen gemeinsamen Nenner: Spiritualität bezeichnet eine persönliche Erfahrung mit verschiedenen Sinnen. Mit Kirche und Religionen hingegen verbinden Menschen eher Regeln, Glaubensinhalte und  Institutionen. Gemäss Sabrina Müller, Theologische Geschäftsführerin des Zentrums für Kirchenentwicklung an der Uni Zürich, muss die Kirche beides miteinander verbinden: «Kirche muss ein religiöser Erfahrungsraum sein. Denn Menschen kon­struieren sich heute ihren Glauben über ihre Erfahrung und weniger darüber, was ihnen ihre Familie, eine Gruppe oder kirchliche Institution vorgibt.»
Die reformierte Kirche wird bisher nicht als spirituell wahrgenommen, im Gegenteil – sie gilt als zu verkopft, zu wenig sinnlich. Für Matthias Zeindler, Professor für Dogmatik an der Uni Bern, ist dies ein Vorurteil mit «einer gewissen Tragik». Er forscht zu reformierter Spiritualität und findet sie auch in klassischen Angeboten: «Der reformierte Gottesdienst ist so angelegt, dass ich zu meinem Gott finde und mich auf ihn ausrichte», erklärt er. «Auch ich als Pfarrer sorge für spirituelle Momente, ganz ohne Meditationen.» Nach den einzelnen Teilen, etwa nach einem Lied oder der Lesung aus der Bibel, habe er jeweils ein paar Sekunden der Stille abgewartet. «Ich war selber überrascht, welch eine grosse Tiefe dadurch entstanden ist.»

Reformiertes Kernelement

Dass Spiritualität ein Kernelement des reformierten Glaubens ist, betont auch die Pfarrerin Cornelia Fluri aus Rothrist. Spiritualität sei von Gott und seinem Geist – auf Lateinisch «spiritus» – belebter Glaube und belebtes Leben. «Gott lässt uns seinen Geist zufliessen, wir müssen uns aber darauf einlassen», sagt sie. Mit der Zeit werde man dadurch verändert, «wie das fliessende Wasser eines Flusses langsam die Steine abschleift». Die Menschen erhalten laut der Pfarrerin nach und nach das Vertrauen in Gott und sein Wirken. Als Beispiel für ein spirituelles Erlebnis nennt sie ein Seniorenferienwochenende mit Taizé-Elementen, das sie einmal veranstaltet hat. Ins Fürbittegebet wurde das Anliegen einer Teilnehmerin aufgenommen. Später habe die Frau der Pfarrerin erzählt, dass ihr Gebet erhört worden sei.
Eine Gebetserhörung nach einem Gemeinde-Event oder einem Gottesdienst kann ein spirituelles Erlebnis sein. Doch um so etwas zu erleben, müssen die Menschen den Entschluss fassen, die Kirche zu besuchen. Laut Isabelle Noth, Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik an der Uni Bern, können sich allerdings immer weniger Menschen mit der Institution Kirche identifizieren. Deshalb, so die Professorin, suchen viele ihre spirituellen Erlebnisse andernorts. «Das spirituelle Bedürfnis ist da», sagt die Religionspsychologin, «denn Religiosität und Spiritualität helfen, Orientierung im Leben zu finden und das, was wir erleben, einzuordnen – zum Beispiel während einer Krise.»

Göttlichen Funken erahnen

Die experimentierfreudige Pfarrerin Cindy Studer bezweifelt, dass die reformierte Spiritualität einzigartig genug ist, um die Menschen anzusprechen. Die christliche Spiritualität beinhalte zwar viele Schätze, jedoch: «Ich versuche immer, die Tradition und die Innovation im Gleichgewicht zu halten.» Nach der Lichtmeditation betet oder segnet Cindy Studer nicht. Doch sie tritt vor ihre Gemeinde und sagt: «Ich hoffe, ihr konntet eine neue Erfahrung machen und den göttlichen Funken in euch erahnen.»