«Und dann stirbste.» Mit dem Zitat hatte im November 2015 das Nachrichtenmagazin «Spiegel» sein Interview mit dem ehemaligen deutschen FDP-Chef und Aussenminister Guido Westerwelle überschrieben. In jenen Herbsttagen war der im Juni 2014 plötzlich an Leukämie erkrankte Politiker während seiner vielerorts präsentierten Buch-Vernissage noch zuversichtlich, den Krebs besiegt zu haben. Doch nur vier Monate später starb er nach seinem kräftezehrenden Kampf mit den «Dämonen» des Krebses.
Die Westerwelle-Stiftung verbreitete die Nachricht vom Tod Westerwelles am 18. März mit einem Bild, das den Verstorbenen mit seinem Ehemann Michael Mronz zeigte: «Wir haben gekämpft. Wir hatten das Ziel vor Augen. Wir sind dankbar für eine unglaublich tolle gemeinsame Zeit. Die Liebe bleibt.»
Die Freiheit der Schwachen. Hinter-lassen hat Westerwelle ein grossartiges Buch, ein Buch zum Mutmachen, das uns mit seiner Geschichte daran erinnert, «auf welch schmalem Grat wir unser Leben führen». Es ist geschrieben «Für Michael. Den Mann meiner zwei Leben».
Aus der Einsamkeit der «Zelle», wie der Krebskranke sein Spitalzimmer selber nennt, kommen Menschenkenntnisse und Erfahrungen zutage, die sich wie Lehrstücke für das eigene Leben lesen. So ist zum Beispiel die Lehre seines zweiten Lebens, «dass auch die Schwachen ihren Wunsch nach Freiheit erfüllen können».
Dann tauchen immer wieder beeindruckende Bilder auf, die schon dem brillanten Redner Westerwelle eigen waren. Schiffe müssen es ihm dabei zeitlebens angetan haben. Konnte der gerade frisch gewählte FDP-Vorsitzende im Mai 2001 noch mit dem markigen Spruch «Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt es einen, der die Sache regelt – und das bin ich» auftreten und damit seinen Führungsanspruch anmelden, so postuliert er nun empathisch für seine mit im Boot sitzenden Leidensgefährten das Genesungsziel: «Alle Schiffe unserer Flotte sollten doch ihr Ziel erreichen.»
Das Geheimnis der Kranken. Das zentrale Thema im Buch bleibt die Liebe. Es ist eine Liebe, die mit dummen Vorurteilen aufräumt. In ihr geht es «in erster Linie um das, wonach sich alle Menschen sehnen – und zwar unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung: um Liebe und Geborgenheit». Michael Mronz – das liest man immer wieder anrührend – stand seinem Kranken fast Tag und Nacht treu zur Seite, sodass Westerwelle dankbar feststellt: «Ohne meinen Ehemann hätte ich den Kampf gegen den Krebs so nicht führen können, wie ich ihn geführt habe.»
Das Buch enthält ein beredt-schweigendes Geheimnis, das vermutlich alle von einem bitteren Leid Betroffenen entschlüsseln können, die miteinander die Sehnsucht kennen, vom Schmerz frei zu werden. So sagt auch Albert Schweitzer, dass jene, «die an sich erfuhren, was Angst und körperliches Weh sind, in der ganzen Welt zusammengehören». Das einfühlsam verfasste Buch knüpft demnach ein «geheimnisvolles Band» mit den vom Schmerz Gezeichneten und gibt ihnen in einer solidarischen Gemeinschaft die Chance, wieder Mut und Zuversicht zu schöpfen. Dabei hat freilich jeder Mensch von vornherein bewusst zu sein, dass die Krankheit nur «die Nachtseite des Lebens ist, eine eher lästige Staatsbürgerschaft. Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich des Gesunden und eine im Reich der Kranken.»
Die Schicksalsgemeinschaft. Was bleibt am Ende von diesem Buch und damit von Guido Westerwelle? Es bleibt eine Schicksalsgemeinschaft, die sich keinesfalls in albernen Kleinigkeiten und unsinnigen Streitigkeiten zu verlieren, sondern ihr Glück im «Carpe Diem!» zu suchen und zu finden hat. Eine Schicksalsgemeinschaft, die nicht nur Menschen verbindet, die eine Krankheit erleiden müssen. Ich persönlich fühlte mich bei der Lektüre oft an meine Zeit im Stasi-Gefängnis in der DDR erinnert, wo ich zwei Jahre verbringen musste. Pfarrkollegen erzählen mir heute, wie ihnen Westerwelles Vermächtnis bei Spitalbesuchen «unglaublich hilft».
Das Buch kontrastiert über weite Strecken mit dem Bild, das sich viele vom ebenso hochgescheiten wie angriffslustigen Politiker gemacht haben. Es ist eines der eindrücklichsten Werke, die ich in all meinen Pfarrerjahren als Seelsorger gelesen habe.