Recherche 04. März 2023, von Delf Bucher

«Keiner soll sich fürchten, am nächsten Tag zu hungern»

Kampagne

Wetterextreme fordern die Menschen in Ostafrika heraus. Projektmanagerin Stellamaris Mulaeh erklärt, wie eine neu ausgerichtete Landwirtschaft auch sozialen Zusammenhalt stärkt.

21 Millionen Menschen sind in Ostafrika aufgrund der extremen Trockenperiode von Hunger bedroht. Am meisten betroffen ist Somalia. Sie waren vor wenigen Tagen dort. In welcher Mission?

Stellamaris Mulaeh: Die Lage in Somalia spitzt sich tatsächlich zu einer ausgewachsenen Hungerkrise zu. Ich wurde von einer Partnerorganisation, die wie auch wir von «Action for Change» von der Fastenaktion unterstützt wird, gebeten, etwas von meinem Erfahrungsschatz weiterzugeben. Wir legten neue Felder in den Auen eines Flusses an, der noch Wasserzustrom von Äthiopien her hat.

Selbst in wüstenhaften Gegenden kann also auch Feldbau betrieben werden?

Wir machen das schon länger. Auch unser Projektgebiet in Kenia liegt vor allem auf trockenem und halbtrockenem – aridem und semiaridem – Terrain. Mit unseren innovativen Methoden ist es uns gelungen, 10'000 Bäuerinnen und Bauern ein Stück Ernährungssouveränität zurückzugeben. Das bedeutet für 80'000 Menschen, dass sie beruhigt ins Bett gehen können, ohne zu fürchten, am nächsten Tag  zu hungern. 

Das ist eine frohe Botschaft, dass trotz der Herausforderungen des Klimawandels Möglichkeiten bestehen, um die Menschen satt zu machen.  

Manche Leute fragen mich, wenn sie meinen grünen Garten sehen: «Besitzt du magische Zauberkräfte?». Nun, das ist nur möglich, weil mein Garten schon über lange Zeit mit der agroökologischen Methode bewirtschaftet wird. Wer aber nach vier ausgebliebenen Regenzeiten einen Neustart wagt, für den wird es ohne Wasser schwierig.

Ökumenische Kampagne

Die ökumenische Kampagne von Heks und Fastenaktion setzt sich auch in diesem Jahr wieder für mehr Klimagerechtigkeit ein. 2023 steht dabei die Agrarökologie im Fokus. Was es mit diesem Begriff auf sich hat, wird die Ökonomin und Agrarexpertin Stellamaris Mulaeh im März an verschiedenen Orten der Schweiz erklären, auch im Verbreitungsgebiet von reformiert.

Zur Website der Kampagne mit Infos zu den Veranstaltungen von Stella Marlis Mulaeh.

Ein neues Beginnen wäre vor allem für die viehzüchtenden Massai wichtig.

Die Situation der nomadischen Massai ist wirklich problematisch. Besass früher eine Familie 40 Ziegen, sind es heute noch zehn. Weil das Vieh kaum Futter findet, sind sie immer mehr zu Notschlachtungen gezwungen. So sind auch die Fleischpreise in den Keller gegangen.

Aber was können die Massai in dieser Situation tun?

Zunächst einmal ist es wichtig, dass sie ein Sicherheitsnetz haben, um ihre Grundbedürfnisse wie Nahrung, Gesundheit und Schulgeld zu decken. Aber wegen der Dürre können sie weder das Vieh noch die Milch verkaufen. Das bedeutet, dass sie über keine finanziellen Reserven verfügen. Wir haben nun 1440 Frauen Zugang zu Mikrokrediten verschafft. Das ermöglicht den Frauen, Lebensmittel zu einem viel niedrigeren Zinssatz von 5 Prozent zu kaufen – sonst sind es in Kenia 12 Prozent pro Jahr. Solche Solidaritätsspargruppen kennen wir in unserem angestammten Projektgebiet ebenfalls.

Solidarität, das ist ein Wort, das bei der agroökologischen Methode eine grosse Rolle spielt.

Tatsächlich geht es bei der Agroökologie um mehr als um technisches Know-how für den biologischen Landbau. Wir wollen schon praktisches Wissen vermitteln, aber auf solidarische Weise.

Das hört sich gut an. Aber wie funktioniert das?

Wir bilden Solidaritätsgruppen. 547 sind es insgesamt. Und anstatt in einem Klassenzimmer zu unterrichten, besuchen wir jede Kleinbäuerin, jeden Landwirt abwechselnd auf einer ihrer Farmen. So eine Gruppe besteht aus 15 bis 20 Mitgliedern. Wir kompostieren gemeinsam, legen mit Setzlingen neue Beete an, heben Gräben aus, in denen das Wasser zurückgehalten wird.

Keiner soll zurückgelassen werden. Die Witwe kann mit ihrem Gesang etwas zur fröhlichen Atmosphäre beitragen oder für das gemeinsame Essen kochen.

Und wenn nun beispielsweise eine alte Witwe von ihrer Arbeitsleistung her nicht mehr so mithalten kann, wird auf ihrem Feld genauso gehackt, gegraben und kompostiert?

Das ist unser Prinzip: Keiner soll zurückgelassen werden. Die Witwe kann mit ihrem Gesang etwas zur fröhlichen Atmosphäre beitragen oder für das gemeinsame Essen kochen. Vielleicht erzählt sie uns auch von traditionellen Methoden, die längst aufgrund der konventionellen Landwirtschaft in Vergessenheit geraten sind und heute nützlich sein könnten, um sich zum Beispiel vor Pflanzenkrankheiten zu schützen. Wichtig ist, dass wir es schaffen, dass keiner mehr hungern muss.

In Kenia, wo vier Millionen Menschen Hunger leiden, da müssen solche beeindruckende Projekte die Politik aufhorchen lassen?

Die derzeitige Regierung setzt auf die konventionelle Landwirtschaft und hat nun Gentech-Saatgut zugelassen. Neben dem Klimawandel ist es die industrielle Landwirtschaft, die Kenias Böden degenerieren lässt. Indes besuchen manche Politiker und Regierungsbeamtinnen unsere Saatgutmessen und hören sich die Erfolgsgeschichten unserer Bäuerinnen und Bauern an. 

Apropos Erfolgsgeschichte: Eine hat mir besonders gut gefallen, die Idee von den Kochherden.

Das ist wirklich ein gelungener Coup von uns gewesen. Mittlerweile haben wir 23'000 Öfen gebaut. Sie ersetzen die offenen Feuer, die in den meisten ländlichen Haushalten noch üblich sind. Das ist gut für die Gesundheit der Frauen, die sonst dem Rauch ausgesetzt sind. Die Öfen verbrauchen 40 Prozent weniger Holz, schonen die Wälder und stossen weniger CO2-Emissionen aus. 

Bisher machten die Männer einen weiten Bogen um die verrauchten Küchen. Jetzt setzen sich beim Kochen öfter einmal dazu.

Gut fürs Klima!

Ja, aber nicht fürs Klima, sondern auch für das familiäre Klima. Denn bisher machten die Männer einen weiten Bogen um die verrauchten Küchen. Jetzt setzen sich beim Kochen öfter einmal dazu.

Und helfen mit beim Zwiebelschneiden?

(Lacht) Das ist die Vision für Übermorgen. Wir leben in einer von Männer dominierten Kultur. So besitzen Männer 80 Prozent des Bodens, während auf der anderen Seite genauso viele Frauen in der Landwirtschaft die Arbeit verrichten. 

Aber gibt es nicht Gesetze, die Frauen ebenso erbberechtigt machen wie Männer?

Gesetze gibt es schon, aber die ungeschriebenen Gesetze des Patriarchats wiegen auf dem Land schwerer. Auch hier mischen wir uns ein, wenn ein Bruder der verwitweten Schwägerin beispielsweise ihr Land wegnehmen will.