«Trump ist der ultimative Kämpfer der Evangelikalen»

Politik

Historikerin Kristin Kobes Du Mez über die ungebrochene Popularität von Donald Trump bei weissen Evangelikalen und die Gefahr, die vom christlichen Nationalismus ausgeht.

Die Rädelsführer des Sturms auf das Kapitol wurden jüngst zu hohen Haftstrafen verurteilt. Sie beschäftigen sich seit Langem mit der Radikalisierung der Evangelikalen in den USA – hat Sie der Sturm auf das Kapitol überrascht?

Kirstin Kobes Du Mez: Vor zehn Jahren hätte ich mir das nicht vorstellen können. Aber meine Forschung hat gezeigt, dass es Gründe gibt, warum bestimmte Gruppen Gewalt und auch politische Gewalt als Mittel sehen. Über Jahrzehnte wurde dies in evangelikalen Kreisen in Büchern und Medien propagiert. Am Fernseher zuzusehen und zu verstehen, was auf dem Spiel steht, hat mich aber recht mitgenommen.

Im Mob waren immer wieder christliche Symbole zu sehen, Kreuze oder Jesus-Fahnen.

Am Tag zuvor fand noch der Jericho March statt, er mobilisiert den rechten Flügel der Evangelikalen, der sich stark kämpferischer Rhetorik bedient. Viele dieser Menschen sah man auch am Kapitol. Was mich sehr beschäftigte: Eine Gruppe der extremistischen Proud Boys blieb in der Menge stehen und sprach ein Gebet. Das war ein Gebet, wie es in jeder evangelikalen Gemeinde am Sonntagmorgen gesprochen wird.

Warum war das so relevant?

Wegen der politischen Beeinflussung. Betet jemand, dass Gott auf seiner Seite sein möge bei der Verteidigung des christlichen Landes, fällt das auf fruchtbaren Boden auch bei moderateren Evangelikalen. Sie sind vielleicht nicht live dabei am Kapitol, schlussendlich werden sie jedoch die extremeren Kräfte beziehungsweise die Republikaner unterstützen. Nicht die Demokraten, die man ihnen vielleicht von klein auf als unchristlich und antiamerikanisch verkauft hat.

Ich argumentiere, dass Trump die Werte der Evangelikalen gar nicht betrogen hat, wir haben einfach ihre Werte nicht richtig verstanden.

Ihr Buch «Jesus and John Wayne: How White Evangelicals Corrupted a Faith and Fractured a Nation» beschäftigt sich genau mit dem Thema. Was haben Jesus und der Westerndarsteller miteinander zu tun?

Viele konservative weisse Evangelikale wurden in den USA kulturell und politisch über Jahrzehnte so beeinflusst, dass Jesus in ihrer Vorstellung zum Revolverhelden geworden ist. Jemand, der das erledigt, was getan werden muss. Indem sie Jesus zu einer Art christlichem Kämpfer gemacht haben, benutzen sie ihn für ihre eigenen Ziele. Nämlich zu kämpfen und zu gewinnen, mit allen Mitteln, auch mit Gewalt.      

Russell Moore, einst einer der einflussreichsten Evangelikalen in den USA, beklagte jüngst, der Jesus der Bergpredigt sei bei vielen Evangelikalen nicht mehr gefragt.

Exakt das meine ich. Viele Evangelikale sind der Ansicht, die Geschichten im Neuen Testament seien gut und schön, aber man könne einen Jungen nicht zum Mann erziehen, indem man ihm beibringe, auch noch die andere Wange hinzuhalten. Hinzu kommt: In diesen Kreisen wird eine Dringlichkeit zu handeln propagiert. Diese prekären Zeiten lassen aus Sicht der Evangelikalen keinen Jesus des Neuen Testaments zu. So erklärt sich auch die Unterstützung für Donald Trump.

Obwohl er christliche Werte mit Füssen tritt, durch Lügen oder sexuelle Belästigung auffällt?

Ganz genau. Ich argumentiere, dass Trump die Werte der Evangelikalen gar nicht betrogen hat, wir haben einfach ihre Werte nicht richtig verstanden. Trump war für die Evangelikalen perfekt, gerade weil er sich nicht an traditionelle christliche Werte gebunden fühlte. Er ist für sie der Typ, der die Dinge anpackt, der ultimative Kämpfer der Evangelikalen, ihr Champion.

Ihr Buch über Evangelikale wurde zum Bestseller

Die Geschichtsprofessorin Kristin Kobes Du Mez lehrt an der Calvin University im Bundesstaat 
Michigan und forscht zu Gender Studies, Religion und Politik. Sie schrieb als Autorin für die «Washington Post» und die «New York Times». Ihr Buch «Jesus and John Wayne: How White Evangelicals Corrupted a Faith and Fractured a Nation» wurde 2021 zum «New York Times»-Bestseller.

Wir sprechen in Europa oft von «den Evangelikalen in den USA» und denken an weisse Gläubige. Dabei gibt es schwarze Evangelikale, Menschen mit lateinamerikanischen Wurzeln oder Liberale. Machen wir es uns zu einfach?

Als Kulturhistorikerin sehe ich die Evangelikalen als eine kulturelle Bewegung. Und da gehören weisse und schwarze Evangelikale nicht zu einer Gruppe. Sie gehen in verschiedene Gemeinden und gehören nicht denselben Denominationen an. Entscheidend ist auch die Konsumkultur, in der sich weisse Evangelikale bewegen. Im Lauf der Jahrzehnte haben sie eine riesige Industrie aufgebaut, es geht dabei um Verlage, die Ratgeberbücher millionenfach verkaufen, Musiklabels und andere Organisationen. Schwarze Evangelikale bezeichnen sich meist nicht als evangelikal, weil die Bezeichnung anderweitig besetzt ist.  

Wo ziehen Sie die Grenze zum christlichen Nationalismus?

Es gibt eine Schnittmenge. In der evangelikalen Lehre war der christliche Nationalismus stets präsent. Amerika als eine christliche Nation  lässt sich verschieden verstehen. Etwa, dass wir unseren Nächsten lieben sollen. Oder dass die Nation als christliche Nation bewahrt werden muss. Dass nur Christen, die gläubig sind wie man selbst, Gesetze machen und die Verfassung interpretieren dürfen. Antidemokratische Tendenzen können so mit christlichem Nationalismus einhergehen. 

Wer benutzt wen für die eigenen Zwecke: die Evangelikalen die Republikaner oder andersherum?

Es gibt immer wieder Evangelikale, die finden, ihr Glaube sei in Geiselhaft genommen worden. Doch historisch gesehen haben die Evangelikalen die religiöse Rechte von Beginn an mit aufgebaut. Den Entscheid, statt der Demokraten die Republikaner zu unterstützen, trafen einst weisse Pastoren. Sie mobilisierten sehr effektiv grosse Wählerschaftsschichten und setzten republikanische Politiker unter Druck, ihre Ziele auf die Agenda zu setzen. 

Entscheidend ist, wohin unsere Demokratie bis dahin steuert. Denn die Evangelikalen nutzen ihre Kraft jetzt, um die Demokratie zu untergraben.

Die Unterstützung Trumps durch Evangelikale scheint ungebrochen. Könnten die laufenden Gerichtsfälle oder eine Verurteilung wegen des Kapitol-Sturms etwas ändern? 

Nein, das sagen mir auch Menschen aus der Szene. Was passieren würde, wenn er wegen einer Verurteilung nicht antreten dürfte, ist schwer zu sagen. Möglicherweise würde es die Loyalität seiner Anhänger stärken und ihre ohnehin zunehmende Radikalisierung noch beschleunigen.

Auch in den USA schreitet die Säkularisierung voran, Kirchen verlieren Mitglieder, selbst evangelikale. Müssen wir uns in zehn Jahren vielleicht keine Gedanken mehr um ihren Einfluss machen?

Zuletzt haben zwar auch die evangelikal ausgerichteten Kirchen Mitglieder verloren, aber ob das eine nachhaltige Entwicklung ist, bleibt fraglich. Entscheidend ist zudem, wohin unsere Demokratie bis dahin steuert. Denn die Evangelikalen nutzen ihre Kraft jetzt, um die Demokratie zu untergraben.  

Sie spielen auf neue Gesetze in republikanisch geführten Bundesstaaten an, die Abtreibung verbieten, die Rechte von LGBTQ-Personen einschränken. Aus Bibliotheken werden Bücher verbannt, die Kindern angeblich schaden könnten.

Im Wesentlichen geht es um das Gefühl, die Kontrolle über die eigene Kultur zu verlieren, die eigenen Werte attackiert zu sehen. Diese Ängste werden von den evangelikalen Anführern seit Jahrzehnten gezielt geschürt. Argumentiert wird mit dem Schutz von Kindern und der Familie. Die Evangelikalen sehen sich als Opfer, die um ihre Art zu leben bangen müssen. Dabei greifen sie aggressiv die Rechte anderer Bevölkerungsgruppen an. 

Entscheidend wird sein, die moderaten Evangelikalen, die zurzeit oft noch die radikaleren Gruppierungen unterstützen, in eine prodemokratische Koalition einzubinden.

Sie bezeichnen die USA als eine zerbrochene Nation. Haben Sie Hoffnung, dass die gesellschaftlichen Spaltungen heilen können?

Ja, denn die Vergangenheit hat gezeigt, dass sich Situationen immer wieder verändern. Aber die Frage ist, ob es vorher noch schlimmer wird. Und es stellt sich auch die Frage, was zur Heilung beiträgt.

Was wäre das?

Einerseits geht es darum, die Gefahren für die Demokratie zu sehen und zu benennen. Doch ganz entscheidend wird sein, die moderaten Evangelikalen, die zurzeit oft noch die radikaleren Gruppierungen unterstützen, in eine prodemokratische Koalition einzubinden. Dazu müssen die linksorientierten Menschen offener werden gegenüber den moderaten Evangelikalen. Vielleicht sind sie beim Recht auf Abtreibung oder LGBTQ-Anliegen nicht einer Meinung. Aber nun geht es um die Zukunft der Demokratie, über diese Themen können wir uns dann später streiten.