Recherche 23. Juni 2021, von Katharina Kilchenmann

Ein E-Bike für die letzte Fahrt

Abschied

Sargtransporte mit dem Cargovelo: die Reaktionen sind gemischt. Der «Erfinder» stellt sich mitten im Quartier den Fragen, die sich angesichts des Todes stellen.

«Mama, sieh nur, ein Glace-Sarg!» Ein kleiner Bub vergisst für einen kurzen Moment sein Eis und schaut sich das Gefährt genauer an: ein batterieverstärktes Fahrrad mit einem zwei Meter langen massiven Vorbau, auf dem ein Sarg liegt. Vorsichtig tippt er auf das rohe Holz. «Ist da ein toter Mensch drin?» Ansonsten nimmt kaum jemand auf dem Stauffacherplatz im Berner Breitenrainquartier Notiz vom schweizweit ersten Bestattervelo. Lieber geniesst man die Köstlichkeiten aus der nahe gelegenen Gelateria.

Wie einst die Leichenkutsche

Hier, mitten im Leben, scheint der Anblick des Todes – auf einem Cargo-Fahrrad herangerollt – niemanden aus der Ruhe zu bringen. Gyan Härri, Geschäftsführer des Bestattungsunternehmens Aurora, freuts. «Es ist Zeit, dass der Tod wieder sichtbar wird», meint er und zündet die Halogenlampen an, die den Sarg dezent beleuchten. Auch wenn Abschiednehmen immer traurig sei, könne die Verabschiedung doch positiv gestaltet werden. «Einst ging die Trauergemeinde hinter der Leichenkutsche her. Mit dem Bestattervelo ist das jetzt wieder möglich, zu Fuss oder auch per Velo, bei Bedarf direkt hinein in die Kapelle und weiter zum Grab.»

Es ist Zeit, dass der Tod wieder sichtbar wird.
Geschäftsführer des Bestattungsunternehmens Aurora

Auf die Idee kam Härri vor mehr als zehn Jahren, als er heiratete und seine Tochter zur Welt kam. «Meine Freunde schenkten mir ein Cargovelo. Damit konnte ich meine Familie buchstäblich durchs Leben tragen.» Nun liess er ein entsprechendes Fahrzeug fürs «letzte Geleit» konstruieren. Zum Preis eines Kleinwagens designte der Winterthurer Cargobike-Profi Sjoerd van Rooijen das Modell, das keine Wünsche offenlässt: klappbare Seitenwände, die den Sarg abdecken oder sichtbar machen, Scheinwerfer und Kerzenhalter für eine feierliche Stimmung und genügend Platz für alle Arten von Dekorationen.

Nach einem Todesfall öffnet sich für die Hinterbliebenen für kurze Zeit ein Seelenfenster.
Gyan Härri

«Man könnte meinen, das Geschäft eines Bestatters sei der Tod. Das Gegenteil ist der Fall.» Das Sterben bringe die Essenz des Lebens auf den Tisch, so Härri. Er schätze die Tiefe, die Ehrlichkeit und Authentizität der Menschen, die er begleite. «Nach einem Todesfall öffnet sich für die Hinterbliebenen für kurze Zeit ein Seelenfenster, das die grössten Ängste und Hoffnungen offenbart.» Damit müsse man sich nicht verstecken. «Genau diese existenziellen Erfahrungen sind es doch, die uns erst recht lebendig machen.

Die Beratungsstelle Leben und Sterben ist ein Angebot der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. Sie hilft, verschiedene Perspektiven am Lebensende zu finden, und unterstützt die Suche nach dem, was im Leben und Sterben trägt. Das Angebot der Be­ratungsstelle in Bern richtet sich an junge und alte Menschen, Kranke, Gesunde, Einzelpersonen und Gruppen unabhängig von Konfession, Weltanschauung oder kulturellem Hintergrund. Auch Fachpersonen, Bildungseinrichtungen und Kirch-
gemeinden finden Unterstützung.

www.beratunglebenundsterben.ch

«Eine echte Ökobestattung», ruft eine junge Frau aus etwas Distanz. «CO2-neutral. Eine Superidee für die Velostadt Bern.» Doch was, wenn das E-Bike einen Unfall hat, der Sarg runterfällt und der Deckel wegspringt?, überlegt sie. Gyan Härri deutet auf die Vorderräder, die von einem Auto stammen. «Das Gewicht ist optimal verteilt.» Und natürlich seien Sarg und Deckel gut fixiert. Ein älterer Herr schaut skeptisch: Ob es denn ein Bestattervelo wirklich brauche, fragt er. «Natürlich nicht», meint Härri, so wie es den Tod auch nicht wirklich brauche. «Aber warum nicht dem Unausweichlichen mit Lebensfreude begegnen?»