Wie kaum ein anderer hat Paulus unsere Theologie und unser Bild von Jesus Christus geprägt. Historisch gesehen ist der Apostel dem historischen Jesus aber gar nie begegnet.
Ja, es ist faszinierend, dass die paulinischen Briefe die ältesten Texte sind, die von Jesus sprechen. Der Brief an die Thessalonicher stammt aus dem Jahr 49, also 13 oder 14 Jahre nach dem Tod Jesu. Paulus stammte nicht aus dem engsten Kreis der Jüngerinnen und Jünger. Seine Deutung von Christus stammt aus seinem Visionserlebnis, als ihm der Auferstandene erschien. Paulus erklärt, vom Messias berufen worden zu sein. Er entwickelt seine Theologie vom auferstandenen Christus her. In seinen Briefen greift er kaum auf den Nazarener zurück, zitiert ihn kaum. Für seine Theologie ist der auferstandene Christus entscheidend.
Hat Paulus das Bild von Jesus verbogen?
Nein, das wird immer wieder behauptet, aber es stimmt nicht. Paulus stand Jesus in vielem sehr nahe: Beide waren unverheiratet. Wie bei Jesus spielt bei Paulus die christliche Gemeinschaft, die sich in den gemeinsamen Mahlzeiten manifestiert, eine zentrale Rolle. Für Paulus war es zentral, dass Christusglaubende jüdischer und nicht jüdischer Herkunft, Arme und Reiche gemeinsam am Tisch sassen. Sowohl Paulus als auch Jesus waren Missionare und zogen von Ort zu Ort, um ihre Botschaft zu verkünden. Und beide predigten eine freie Auslegung und Handhabung des Gesetzes. Und natürlich das Doppelgebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst und liebe Gott.
Was verraten die Briefe im Neuen Testament über Paulus?
Paulus gibt nicht viel Autobiografisches preis. Er ist kein amerikanischer Autor, der viel von sich erzählt. Aber wir bekommen einen Einblick in seine Persönlichkeit. Paulus ist ein leidenschaftlicher Seelsorger, Pfarrer und Gründer seiner Gemeinden, er kämpft für seine Gemeinden. Er ist nicht der Chef, der befiehlt, sondern er fordert seine Gemeinden auf, sich selbst eine Meinung zu bilden und Entscheidungen zu treffen. Er hat auch eine grosse rhetorische Begabung. Jeder Brief hat seinen eigenen Charakter: Im Galaterbrief begegnet man einem kämpferischen, schlecht gelaunten Paulus, im Römerbrief einem abgeklärten Theologen, der längere Gedankengänge entfaltet.