Recherche 12. September 2024, von Tilmann Zuber, Kirchenbote

Seine Briefe prägten die Welt

Apostel Paulus

Über Jahrhunderte waren die Paulusbriefe moralischer Kompass, und sie lösten die Reformation aus. Der Neutestamentler Moisés Mayordomo über den Apostel, der Jesus gar nicht kannte.

Wie kaum ein anderer hat Paulus unsere Theologie und unser Bild von Jesus Christus geprägt. Historisch gesehen ist der Apostel dem historischen Jesus aber gar nie begegnet.

Ja, es ist faszinierend, dass die paulinischen Briefe die ältesten Texte sind, die von Jesus sprechen. Der Brief an die Thessalonicher stammt aus dem Jahr 49, also 13 oder 14 Jahre nach dem Tod Jesu. Paulus stammte nicht aus dem engsten Kreis der Jüngerinnen und Jünger. Seine Deutung von Christus stammt aus seinem Visionserlebnis, als ihm der Auferstandene erschien. Paulus erklärt, vom Messias berufen worden zu sein. Er entwickelt seine Theologie vom auferstandenen Christus her. In seinen Briefen greift er kaum auf den Nazarener zurück, zitiert ihn kaum. Für seine Theologie ist der auferstandene Christus entscheidend.

Hat Paulus das Bild von Jesus verbogen?

Nein, das wird immer wieder behauptet, aber es stimmt nicht. Paulus stand Jesus in vielem sehr nahe: Beide waren unverheiratet. Wie bei Jesus spielt bei Paulus die christliche Gemeinschaft, die sich in den gemeinsamen Mahlzeiten manifestiert, eine zentrale Rolle. Für Paulus war es zentral, dass Christusglaubende jüdischer und nicht jüdischer Herkunft, Arme und Reiche gemeinsam am Tisch sassen. Sowohl Paulus als auch Jesus waren Missionare und zogen von Ort zu Ort, um ihre Botschaft zu verkünden. Und beide predigten eine freie Auslegung und Handhabung des Gesetzes. Und natürlich das Doppelgebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst und liebe Gott.

Was verraten die Briefe im Neuen Testament über Paulus?

Paulus gibt nicht viel Autobiografisches preis. Er ist kein amerikanischer Autor, der viel von sich erzählt. Aber wir bekommen einen Einblick in seine Persönlichkeit. Paulus ist ein leidenschaftlicher Seelsorger, Pfarrer und Gründer seiner Gemeinden, er kämpft für seine Gemeinden. Er ist nicht der Chef, der befiehlt, sondern er fordert seine Gemeinden auf, sich selbst eine Meinung zu bilden und Entscheidungen zu treffen. Er hat auch eine grosse rhetorische Begabung. Jeder Brief hat seinen eigenen Charakter: Im Galaterbrief begegnet man einem kämpferischen, schlecht gelaunten Paulus, im Römerbrief einem abgeklärten Theologen, der längere Gedankengänge entfaltet.

Der Apostel schreibt dem Besitzer, er erkenne sein Eigentumsrecht an. Nun wäre es töricht, daraus zu folgern, man müsse die Sklaverei wieder einführen.
Moisés Mayordomo, Neutestamentler

Paulus reagiert in den Briefen auf Situationen in den Gemeinden. Er äussert sich sehr konkret zu den Fällen. Aber heute haben seine Aussagen etwas Dogmatisches.

Die grosse Entdeckung der Reformation war die Rechtfertigungslehre des Paulus. Diese wurde in eine starre und sture Dogmatik gegossen. Dogmatik im schlechten Sinne, die von der konkreten Situation absieht und die Texte zu ewigen Grundwahrheiten des christlichen Glaubens erklärt. Heute verstehen wir Theologie, auch die von Augustinus, Luther oder Karl Barth, nicht mehr abstrakt, sondern immer situationsbezogen.

Das gilt auch für Paulus.

Ja, die historische Paulusforschung ist vor 200 Jahren entstanden, um die dogmatische Pauluslektüre zurückzudrängen. Die historische Forschung fragt zuerst, in welcher konkreten Situation diese Briefe geschrieben wurden, was der Anlass war. Meist geben die Briefe selbst darüber Auskunft. Im kleinen Brief an Philemon reagiert Paulus darauf, dass ein Sklave aus einem christlichen Haushalt zu ihm geflohen ist. Der Apostel schreibt dem Besitzer, er erkenne sein Eigentumsrecht an. Aber Paulus bittet ihn, den Sklaven freizulassen. Nun wäre es töricht, daraus zu folgern, man müsse die Sklaverei wieder einführen. Sie sei christlich. Aber so wurde es im Amerika des 19. Jahrhunderts diskutiert. Wenn man Paulus dogmatisch liest und ihn von der konkreten Situation abstrahiert, dann kommt man zu ganz merkwürdigen Dingen. Konkrete Ethik und konkrete Theologie funktionieren nur in konkreten Situationen. Heute haben wir keine Sklaverei mehr, Männer und Frauen sind gleichberechtigt, Homosexuelle dürfen heiraten.

In den Briefen des Paulus gibt es Stellen, in denen er sagt, dass Frauen in der Gemeinde schweigen sollen, wie die Haare zu tragen sind, oder in denen er gegen Homosexualität wettert. Wie geht man mit diesen Texten um?

Man sollte die Texte geduldig lesen und versuchen, sie zu verstehen. Einen Text verstehen heisst, sich auf seine Wirklichkeit einzulassen. Wer die Briefe liest, findet auch Stellen, in denen Paulus sagt, dass es in Christus nicht mehr Mann und Frau, nicht mehr Sklave und Freier gibt. Oder an anderen Stellen erwähnt er die Namen von Frauen, die als Apostelinnen oder Diakoninnen in den Gemeinden tätig waren.

Paulus argumentiert mit Scham und Ehre. Das sind Moralvorstellungen einer bestimmten Zeit, die heute nicht mehr gelten.
Moisés Mayordomo, Neutestamentler

Diese Briefstellen sagen genau das Gegenteil.

Richtig, man muss die Texte insgesamt betrachten und sich fragen, woher Paulus seine Begründung nimmt. In dem berühmten Text 1. Kor 11, 2–16, sind seine Begründungen manchmal recht dünn. Er schreibt, es sei unschicklich, es sei eine Schande, es gehöre sich nicht. Paulus argumentiert mit Scham und Ehre. Das sind Moralvorstellungen einer bestimmten Zeit, die heute nicht mehr gelten.

Was ist bei Paulus zu beachten?

Die zentrale Begründung bei Paulus ist das Doppelgebot der Liebe, den Nächsten zu lieben wie sich selbst und Gott zu lieben. Aus diesem Gebot leitet er alle anderen Themen ab, beispielsweise was der Gemeinschaft nützt, was den anderen aufbaut, was dem Gemeinwohl dient.

Neben den schroffen Bibelstellen gibt es  den geistlichen Paulus. Gerade wenn man an den wunderbaren Abschnitt im 1. Korinther 13 über Liebe, Glaube und Hoffnung denkt. Aber dieser Paulus ist kaum bekannt.

Unser Zugang zu Paulus ist stark reformatorisch geprägt. Dadurch, dass die Rechtfertigungslehre so stark ins Zentrum des christlichen Glaubens gerückt wurde, sind die anderen zentralen Aspekte des Paulus verloren gegangen. Paulus ist einer der grossen geistlichen Theologen des Neuen Testaments. Er spricht oft und viel vom Heiligen Geist und wird dabei zum Mystiker. Zum Beispiel, wenn er im 2. Korintherbrief schreibt: «Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.» Er spricht von den Früchten des Geistes wie Liebe, Freude, Friedfertigkeit oder Barmherzigkeit. Und er schreibt: «Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.» Was für grossartige Texte! Das ist Mystik. Was für ein wunderbares Christentum könnte sich auf dieser Grundlage entwickeln?

Moisés Mayordomo ist Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät Basel.