Mit Steuerdaten gegen die Armut

Armutsbekämpfung

Ein neues Berechnungsmodell der Berner Fachhochschule zeigt exakt, wer arm ist und wo Arme wohnen. Die Daten führten gemäss Projketleiter Oliver Hümbelin schon zu konkreter Hilfe.

Oliver Hümbelin, gibt es in der reichen Schweiz überhaupt arme Leute?

Ja, es gibt hier recht viele arme Leute. Gemäss dem Bundesamt für Statistik gelten aktuell rund 750’000 Menschen als einkommensarm. Diese Leute haben weniger Einkommen als das von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS definierte Existenzminimum.

Wer ist betroffen?

Es gibt viele strukturelle Faktoren, die dazu führen, dass gewisse Gruppen mehr von Armut betroffen sind als andere. Es kommt ganz darauf an, wie gut es einem gelingt, am Erwerbsleben teilzuhaben, aber auch, wie gut man geschützt ist durch das System der Sozialen Sicherheit. Leute mit einer fehlenden Berufsausbildung sind überdurchschnittlich betroffen. Auch Alleinerziehende, bei denen es schwierig ist, Beruf mit Betreuungspflichten zu vereinbaren. Eine weitere Risikogruppe sind Menschen, denen es aufgrund ihrer Gesundheit erschwert ist, am Erwerbsleben teilzuhaben.

Oliver Hümbelin

Oliver Hümbelin

Oliver Hümbelin ist Dozent und Forscher am Departement für Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule. Sein Fachgebiet ist Armut und Soziale Sicherheit in der Schweiz. Seit 2019  leitet er das Forschungsprojekt «Armutsmonitoring Caritas».

Wie steht es mit Leuten mit Migrationshintergrund?

Auch sie sind deutlich öfter armutsbetroffen, besonders Personen aus Drittstaaten, die von ausserhalb der EU zugewandert sind. Diese Leute haben oft Ausbildungen, die dem Schweizer Markt nicht entsprechen oder die hier schwer anzuerkennen sind. Zudem spielen sprachliche Hürden eine Rolle. Dazu kommt die Absicherung in der Schweiz. Leute, die über das Asylverfahren in die Schweiz kommen, bekommen per se weniger Geld als in der regulären Sozialhilfe. Es ist gewollt, dass sie mit weniger leben müssen. Dazu kommt die Verschärfung des Ausländer- und Integrationsgesetzes, die es für Personen mit beschränktem Aufenthaltsrecht schwieriger macht, staatliche Unterstützung zu beanspruchen, weil sie eine Ausweisung oder Zurückstufung ihres Status befürchten müssen.

2020 hat die BFH mit der Caritas einen Vorschlag für ein Armutsmonitoring erarbeitet. Welche Daten liefert dieses?

Unser Modell liefert armutsrelevante Indikatoren auf verschiedenen Ebenen. Zum Beispiel kann man damit die räumliche Dimension sehr genau abbilden und zeigen, in welchen Gemeinden Armutsbetroffene leben. Es wird so auch sichtbar, wer von Sozialleistungen erreicht wird und wer nicht. Denn viele Menschen beziehen die Sozialleistungen nicht, die ihnen eigentlich zustünden. Damit kann die Wirksamkeit von Sozialleistungen untersucht werden und es gibt Hinweise zur  versteckten Armut, die auch ein Problem ist. Man kann auch sehr genau aufzeigen, wer armutsgefährdet ist, also knapp oberhalb der Armutsschwelle lebt.

Warum ist das interessant?

Das wurde in den letzten paar Jahren immer wichtiger, da man durch die Steigerung der Lebenshaltungskosten immer etwas mehr braucht, um nicht in Armut zu leben. Das wirft neue Fragen auf, wie Armut effektiv bekämpft werden kann. Unsere Auswertungen haben etwa ergeben, dass bei der Armutsgefährdung andere Bevölkerungsgruppen auftauchen als bei der Armutsbetroffenheit. So etwa viele Familien mit kleinen Kindern, die zwar ein gewisses Einkommen haben, aber auch einen grösseren Bedarf.

Das Armutsmonitoring der Berner Fachhochschule

2020 hat die Berner Fachhochschule BHF mit der Organisation Caritas einen Vorschlag erarbeitet, wie im Kanton Bern ein Armutsmonitoring aussehen könnte. Mit diesem Instrument soll die Armutsbeobachtung in der Schweiz verbessert werden, sagt der Projektverantwortliche Oliver Hümbelin von der BFH. Bisher hätten einfach bestimmte Kennzahlen des Bundesamtes für Statistik gesamtschweizerisch und im Vergleich mit Europa gewisse Beobachtungen ermöglicht. Dazu komme die Sozialhilfestatistik, die erhebt, wer Sozialhilfe beansprucht. «Wir sagen jedoch, dass das zu wenig ist, da sich diese Daten nicht auf Kantonsebene runterbrechen lassen», so Hümbelin. Doch gerade die Kantone und auch die Gemeinden seien zuständig für Massnahmen gegen Armut und bräuchten dafür Entscheidungsgrundlagen.

Das BFH-Modell verwendet darum just Daten von Kantonsebene, nämlich – unter Wahrung des Datenschutzes – individuelle Steuerdaten, aus denen sich Informationen zur Finanzlage aller Leute in einem Wohnraum gewinnen lassen. Diese Daten werden mit der Sozialhilfestatistik, Daten weiterer bedarfsabhängiger Leistungen und dem Bevölkerungsregister verknüpft. «Damit kann man ein genaues Bild zur finanziellen Situation der Bevölkerung zeichnen», so Hümbelin.

Das Modell der BFH zeige somit den Kantonen und Gemeinden präzise, wo in ihren Gebieten Handlungsbedarf zur Armutsbekämpfung bestehe. Mittlerweile werde das Modell auch in den Kantonen Basel-Land und Wallis umgesetzt. Der Kanton Basel-Stadt nutze eine verkürzte Form des Modells.  Mit Schaffhausen und Solothurn, die es ebenfalls übernehmen möchten, sei die BFH im Gespräch.

Auf nationaler Ebene wurde der Handlungsbedarf auch erkannt. Der Bund führt mit dem nationalen Armutsmonitoring ein mehrjähriges Projekt zur Armutsbeobachtung durch, bei dem unter anderem auch die BFH beratend zur Seite steht. 2025 wird es einen ersten grossen Bericht geben.

Was bringt dies den Kantonen konkret?

Die Kantone und auch die Gemeinden erhalten dadurch wichtige Kennzahlen, die ihnen helfen, ihre Instrumente zur Verhinderung und Bekämpfung von Armut zu entwickeln und zu überprüfen. Das kann konkret dann unterschiedlich aussehen. Der Kanton Basel-Land etwa bezieht das Monitoring in seine Armutsstrategie ein. In dieser sind verschiedene Handlungsfelder wie Bildung, Erwerbsarbeit oder Wohnen definiert und eine Vielzahl an grossen und kleinen Massnahmen. Das bietet grosses Potenzial Armut zu verhindern und langfristig zu lösen, statt sie bloss zu verwalten. Ganz konkret hat der Kanton zum Beispiel bei armutsgefährdeten jungen Familien Mietzinszuschüsse initiiert. Das Monitoring in Basel-Land hat zudem weiter ergeben, dass rund ein Viertel der Armutspopulation gar nicht zur Sozialhilfe geht und dass es da regionale Muster gibt.

Welche?

In ländlichen Gemeinden gibt es zwar absolut gesehen weniger Fälle, aber die Hürden sind hier höher, nicht zuletzt, weil man sich geniert, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Man kennt sich sehr gut, oder der Gemeindeschreiber ist gleichzeitig verantwortlich für die Sozialhilfe. Basel-Land hat darum ein sogenanntes Assessment Center eingerichtet. Dieses soll unter anderem eine sehr niederschwellige Beratung ermöglichen, wie man in einer Notlage zu Hilfe kommt. Es befindet sich im Hauptort Liestal in einem grossen Gebäude, in dem viele Leute ein- und ausgehen. Das ist anonymer und macht es den Leuten einfacher, sich Hilfe zu holen.

Wenn Leute die Hilfe, die ihnen von Rechts wegen zusteht, nicht in Anspruch nehmen, spart der Staat ja Kosten. Man könnte es also auch positiv sehen.

Es stimmt, dass das den Staat kurzfristig Kosten spart. Dennoch ist es nicht ganz unproblematisch. Wenn Menschen mit weniger leben, als sie eigentlich brauchen, kommen sie in Problemlagen, die ohne Unterstützung in Form von Beratung oder Geld chronisch werden können. Leute verschulden sich im privaten Umfeld oder zahlen Kredite, Steuern und Krankenkassenprämien nicht. Sie verzichten auf Dinge, die mittelfristig wichtig wären, sparen etwa bei gesundheitlichen Leistungen.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Ein gutes Beispiel ist die Zahnvorsorge. Wenn der Zahn nicht gerade ausfällt, geht man noch nicht zum Zahnarzt. Irgendwann jedoch können sich diese Sachen anstauen, und es entstehen noch grössere Probleme. Mit einer frühzeitigen Beratung hätte man dies vermeiden können. Es geht aber auch um langfristige Prozesse, wenn etwa Kinder in den Haushalten leben. Wer in Armut aufwächst, hat es später auch schwerer mit seiner Bildungskarriere, und das Risiko, selber armutsbetroffen und abhängig von staatlicher Unterstützung zu werden, nimmt zu.

Armutsbetroffen oder armutsgefährdet?

Das Existenzminimum für eine Einzelperson in der Schweiz beträgt (gemäss der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS) rund 2’200 Franken, für eine vierköpfige Familie rund 4’000 Franken. Wer mit soviel oder weniger lebt, gilt als armutsbetroffen. Armutsgefährdet ist, wer mit 2’500 Franken als Einzelperson oder 5'300 CHF als vierköpfiger Familie leben muss.

Neben der finanziellen Not definiere sich Armut ganz allgemein als Mangel an Handlungsmöglichkeiten und Teilhabe an der Gesellschaft. «Dieses breitere Verständnis von Armut ist besonders wichtig, wenn es um Massnahmen zur Überwindung und präventiven Vermeidung von Armutslagen geht», sagt Oliver Hümbelin von der BFH.

Laut einem verbreiteten Vorurteil ist Armut selbstverschuldet. Was sagen Ihre Daten dazu?

Die Schuldfrage gehörte historisch immer zur Armutsdiskussion. Ich selber empfinde sie als unangebracht. Einerseits gibt es in allen Gesellschaften auf die soziale Struktur zurückzuführende Dynamiken, die beeinflussen, wer im Leben Erfolg haben wird und wer nicht. Der familiäre Hintergrund spielt dabei eine grosse Rolle. Andererseits frage ich mich, was die Klärung der Schuldfrage in diesem Kontext bringen soll. Es sind einfach Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – in eine Notlage geraten sind. Das birgt grosse Probleme für die Betroffenen, aber auch für die Gesellschaft. Deswegen muss man vorwärtsschauen und überlegen, wie Betroffene ihre Lage verbessern können.

Ist dann die Armutsfrage eine Staatsaufgabe?

Ich finde ja. Einerseits, weil eine solidarische Gesellschaft dafür sorgen muss, dass alle teilhaben können. Das ist ein Wert, der auch in der Bundesverfassung verankert ist. Und andererseits, weil es ohne Eingreifen des Staates Probleme nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die ganze Gesellschaft gibt. Gesellschafen mit tiefen Armutsraten sind wirtschaftlich und sozial stabiler. Wei wichtig das Thema Armut ist, zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass die Bekämpfung von Armut ein zentrales Ziel der Agenda 2030, den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, ist, zu der sich auch die Schweiz bekennt.

Wo besteht in der Schweiz in Sachen Armut ihrer Meinung nach Handlungsbedarf?

Die Gesellschaft muss lernen, wie sich Armut möglichst vorbeugend verhindern lässt. Wichtig ist auch zu einem sachlichen Diskurs zu kommen, indem man die strukturellen Zusammenhänge und die Gründe für Armut aufzeigt. Armut wird zudem oft verkürzt gesehen. Man denkt, Armutsbetroffene seien Obdachlose und Bettler. Das stimmt zwar, aber Armut beginnt schon an der Armutsgrenze, also dem sozialen Existenzminimum. Es braucht in der Schweiz bereits einiges an Geld, um auch nur den minimalsten Lebensstandard zu führen. Die Lebenshaltungskosten in der Schweiz sind im Vergleich zum EU/EFTA-Raum 70 Prozent höher. Es ist wahnsinnig teuer, in der Schweiz zu leben.

Gibt es etwas, das ihnen im Zusammenhang mit Armut in der Schweiz Hoffnung macht?

Ja, im letzten Jahrzehnt hat sich viel verändert. Dass man etwa im Parlament aufgrund eines parteiübergreifenden Vorstosses zum Schluss gekommen ist, genauer hinschauen und systematischer mit dieser Thematik umgehen zu wollen. Daraus ist mit dem nationalen Armutsmonitoring ein grosses Projekt beim Bund entstanden. Von diesem verspreche ich mir, dass es den Kantonen und Kommunen zukünftig ermöglichen wird, besser mit der Armut umzugehen. Auch im öffentlichen Diskurs ist die Thematik wieder präsenter. Die Öffentlichkeit interessiert sich dafür, warum es Menschen gibt, bei denen es nicht läuft. Und oft wird darüber mittlerweile auch auf eine gute Art diskutieret.