Laut einem verbreiteten Vorurteil ist Armut
selbstverschuldet. Was sagen Ihre Daten dazu?
Die Schuldfrage gehörte historisch immer zur
Armutsdiskussion. Ich selber empfinde sie als unangebracht. Einerseits gibt es
in allen Gesellschaften auf die soziale Struktur zurückzuführende Dynamiken,
die beeinflussen, wer im Leben Erfolg haben wird und wer nicht. Der familiäre
Hintergrund spielt dabei eine grosse Rolle. Andererseits frage ich mich,
was die Klärung der Schuldfrage in diesem Kontext bringen soll. Es sind einfach
Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – in eine Notlage geraten sind.
Das birgt grosse Probleme für die Betroffenen, aber auch für die Gesellschaft.
Deswegen muss man vorwärtsschauen und überlegen, wie Betroffene ihre Lage
verbessern können.
Ist dann die
Armutsfrage eine Staatsaufgabe?
Ich finde ja. Einerseits, weil eine solidarische
Gesellschaft dafür sorgen muss, dass alle teilhaben können. Das ist ein Wert,
der auch in der Bundesverfassung verankert ist. Und andererseits, weil es ohne
Eingreifen des Staates Probleme nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für
die ganze Gesellschaft gibt. Gesellschafen mit tiefen Armutsraten sind
wirtschaftlich und sozial stabiler. Wei wichtig das Thema Armut ist, zeigt sich nicht zuletzt
auch darin, dass die Bekämpfung von Armut ein zentrales Ziel der Agenda 2030,
den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, ist, zu der
sich auch die Schweiz bekennt.
Wo besteht in der Schweiz in Sachen Armut ihrer Meinung
nach Handlungsbedarf?
Die Gesellschaft muss lernen, wie sich Armut möglichst
vorbeugend verhindern lässt. Wichtig ist auch zu einem sachlichen Diskurs zu kommen, indem man die strukturellen
Zusammenhänge und die Gründe für Armut aufzeigt. Armut wird zudem oft verkürzt gesehen. Man denkt, Armutsbetroffene seien Obdachlose
und Bettler. Das stimmt zwar, aber Armut beginnt schon an der Armutsgrenze,
also dem sozialen Existenzminimum. Es braucht in der Schweiz bereits einiges an
Geld, um auch nur den minimalsten Lebensstandard zu führen. Die
Lebenshaltungskosten in der Schweiz sind im Vergleich zum EU/EFTA-Raum 70
Prozent höher. Es ist wahnsinnig teuer, in der Schweiz zu leben.
Gibt es etwas, das ihnen im Zusammenhang mit Armut in der
Schweiz Hoffnung macht?
Ja, im letzten Jahrzehnt hat sich viel verändert. Dass man
etwa im Parlament aufgrund eines parteiübergreifenden Vorstosses zum Schluss
gekommen ist, genauer hinschauen und systematischer mit dieser Thematik umgehen
zu wollen. Daraus ist mit dem nationalen Armutsmonitoring ein grosses Projekt
beim Bund entstanden. Von diesem
verspreche ich mir, dass es den Kantonen und Kommunen zukünftig ermöglichen
wird, besser mit der Armut umzugehen. Auch im öffentlichen Diskurs ist die Thematik
wieder präsenter. Die Öffentlichkeit interessiert sich dafür, warum es Menschen
gibt, bei denen es nicht läuft. Und oft wird darüber mittlerweile auch auf eine
gute Art diskutieret.