«Lasst uns eine kirchliche Brachzeit ausrufen!»

Kirche

Pfarrer Christian Adrian denkt über die Zukunft und die Innovationskraft der Kirche nach. In einem Essay schlägt er eine «Brachzeit» vor, aus der die Kirche neu erstehen könnte.

Viele sagen: Die Kirche ist irrelevant, sie holt mich nicht ab. Christian Adrian, was ist mit der Kirche los?

Christian Adrian: Dass die Kirche im Moment nicht mehr viel verkörpert, was den Menschen wichtig ist, stimmt leider. Dass sie dabei ins Abseits gerät, ist eine reale Gefahr.

Kritische Menschen reiben sich vor allem daran, dass die Kirche eine Glaubensinstitution sei, mit einem Buch als Fundament, dessen «Märchen» man heute, im aufgeklärten Zeitalter, nicht mehr glauben könne.

Laut dem französischen Denker Michel Foucault wird unser Verständnis von Wirklichkeit durch Diskurse geprägt. Diese bestimmen die Art und Weise, wie über Zusammenhänge gesprochen wird und gesprochen werden darf. Im Grunde ist Wirklichkeit also nicht Natur, sondern menschgemacht, wobei verschiedene Verständnisse von Wirklichkeit miteinander konkurrieren. Noch einfacher gesagt: Wirklichkeit ist vor allem Geglaubtes. Das gilt sogar für naturwissenschaftliche Erkenntnisse. In diesem Sinn setzen heute herrschende naturwissenschaftliche oder auch neoliberale Diskurse das biblische Wirklichkeits- und Menschenverständnis ins Unrecht und Abseits. Diese Diskurse sind aber nicht sakrosankt. Das Potenzial, die befreiende Kraft biblischer Geschichten und ihres Wirklichkeitsverständnisses muss aufgezeigt und wieder bewusst und spürbar werden.

Was ist in diesem Zusammenhang die Aufgabe der Kirche?

Das Evangelium so zu verkündigen und zu leben, dass es eine befreiende und plausible Botschaft wird, eine Einladung zur Vielfalt, eine Art Koordinatensystem in einem abgrundtiefen Raum der Freiheit. Die Kirche zielt auf eine neue Welt, in der Leben und Zusammenleben im Gleichgewicht sind: ich und die anderen, Freiheit und Regelung. Kurz: Chaos und Kosmos in kreativer und lebensfreundlicher Spannung miteinander vereint.

Christian C. Adrian, 61

Christian C. Adrian, 61

Zur Welt kam er in Uruguay als Sohn deutscher Mennoniten. An der Universität Basel hat er Theologie, Philosophie und spanische Literatur- und Sprachwissenschaft studiert, 1991 wurde er zum reformierten Pfarrer ordiniert. Seither war Christian Adrian in verschiedenen reformierten Kirchen als Pfarrer tätig, zudem als Synodalrat, Schulleiter und Organisationsberater. Lange war er Pfarrer im bernischen Hindelbank, aktuell wirkt er in den Berner Orten Oberburg und Kirchberg. Seit 2015 ist er Mitglied im Think-Tank des Berner Pfarrvereins, seit 2018 Mitglied im Vorstand des Pfarrvereins.

Um eine «neue Welt» zu bauen, braucht es innovative Kraft. Hat die Kirche diese Kraft?

Ja, potenziell schon. Aber ich mache eine positive Antwort abhängig davon, ob wir wieder zur Freiheit finden – und zur Kraft, die aus der Lust am Leben und Gestalten erwächst.

Was hemmt denn aktuell diese Lust?

Neues entsteht aus Ideen, aber durchsetzen können sie sich nur, wenn die Bereitschaft vorhanden ist, darüber zu reden und auch zu streiten. In der Kirche – aber nicht nur da – herrscht eine problematische, lähmende Art, wie Kämpfe geführt werden. Personen, die etwas Kritisches sagen, werden gemieden oder stigmatisiert. Sie stören nur. Wichtig wäre, zu einer neuen Streitkultur zu finden, im Geist der Offenheit und Bescheidenheit. Wir müssen lernen, die eigene Haltung nicht als etwas Absolutes wahrzunehmen, sondern bloss als Perspektive. Frei nach der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe: Antagonismus nein, Agonsimus ja.

Auch in der Kirche orientieren wir uns leider allzu sehr an der neoliberalen Forderung der Selbstoptimierung.
Pfarrer Christian Adrian

Das müssen Sie nun erklären.

Wer das Modell des Antagonismus lebt, hat allein recht, muss also den anderen bekämpfen, zumindest überstimmen und dominieren, und das möglichst oft. Der Agonismus dagegen setzt auf offene kritische, auch kämpferische Auseinandersetzungen. Aber dabei auf ein dynamisches Miteinander, dessen Vielfalt immer wieder verhandelt wird, in gegenseitigem Anhören und in gegenseitigem Respekt. Und im Wissen darum, dass es unterschiedliche Ansichten gibt und diese ausgehalten werden müssen.

In Ihrem Essay «Kirche. Zukunft. Jetzt.» erwähnen Sie als innovationshemmend auch den Hang der Kirche, trotz schwindender Ressourcen möglichst viel aufrechtzuerhalten, wenn nicht gar auszubauen.

Ja, auch in der Kirche orientieren wir uns leider allzu sehr an der neoliberalen Forderung der Selbstoptimierung: noch leistungsbereiter, noch effizienter werden, noch mehr Widerstandskraft gegen das drohende Ausgebranntsein entwickeln. Noch mehr Anlässe durchführen, noch mehr öffentliche Präsenz markieren. Das bringt aber keine Innovation, nur Frustration, denn die Relevanz lässt sich so nicht steigern, auch nicht die Publikumsfrequenz. Es muss vielmehr darum gehen, das, was Kirche heute ausmacht, herauszuarbeiten und in die Gesellschaft hineinzutragen. Die Devise muss lauten: Nicht mehr, sondern anders.

Was schlagen Sie konkret vor?

Lasst uns eine kirchliche «Brachzeit» ausrufen! Die Kirche soll ein, zwei, drei Jahre lang mit ihren Angeboten massiv herunterfahren, mindestens um einen Drittel, noch besser um die Hälfte. Der dabei entstehende Leerraum soll in dieser Zeit aber gefüllt werden – anders, als man es gewohnt ist. Die Leute sollen nicht in die Kirche kommen; die Kirche soll zu den Leuten gehen.

Das heisst?

Die Pfarrerinnen und Pfarrer, aber auch andere kirchliche Akteurinnen und Akteure gehen zu den Menschen und führen Gespräche, hören zu, sorgen für gute und lebendige Begegnungen, in denen alles auf den Tisch gelegt wird, was sein sollte, sein könnte, sein müsste. Erfahrungsgemäss gibt es kaum etwas Wirkungsvolleres und Bereicherndes als persönliche Begegnungen.

Die Brachzeit könnte der Anstoss sein zu einem neuen Weg, einer neuen Kirche.
Pfarrer Christian Adrian

Was soll nach der Brachzeit geschehen?

Sie könnte der Anstoss sein zu einem neuen Weg, einer neuen Kirche. Welche Kritikpunkte, Bedürfnisse, Ideen, Inspirationen und Erkenntnisse im Lauf einer kantonsweiten Brachzeit konkret auf den Tisch kämen, kann natürlich niemand sagen. Man müsste diesen befreienden Raum erst einmal mutig schaffen und nutzen. Das Neue würde sich im Lauf der Zeit einfach zeigen, davon bin ich überzeugt. Und jede Gemeinde sollte sich bei diesem Prozess ermutigt fühlen, für sich selbst einen stimmigen Weg zu finden und zu gehen.

Welche Rolle sollen auf der Suche nach neuen Wegen die Pfarrpersonen einnehmen?

Sicher eine prägende. Sie sind aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung dazu berufen. Aber die traditionelle Leitungsrolle ist im Umbruch. Weg vom «Pfarrerstand», hin zum Akteur auf Augenhöhe. Die Pfarrerinnen und Pfarrer sollen Menschen ermächtigen und vernetzen, motivieren und zu Eigenem ermuntern.

Sind Sie optimistisch, was die Zukunft der reformierten Volkskirchen in der Schweiz betrifft?

Ja, ich bin optimistisch, trotz gegenteiliger Anzeichen. Denn in der Kirche und ihren Menschen schlummert ein enormes Potenzial. Man muss ihm Raum geben, dann kann es zu einer wahren Explosion an Innovation und Gestaltungskraft kommen.

Der Essay von Christian Adrian