Recherche 28. August 2023, von Delf Bucher

130 Jahre Schächtverbot: Zwischen Tierschutz und Judenhass

Politik

Seit 1893 besteht das Schächtverbot. Für antisemitisch vergiftete Debatten sorgt es aber bis heute. Dabei ist Schächtfleisch aus tierethischer Sicht ein eher kleines Problem.

Mit geheuchelter Tierliebe und antisemitischen Parolen mobilisiert die allererste eidgenössische Volksinitiative im August 1893 und verankerte das Schächtverbot in der Verfassung (siehe Infotext unten). Aber die Debatte ist auch in der Gegenwart nie verstummt.

Die Politik reagierte durchwegs eingeschüchtert und defensiv auf die antisemitischen Reflexe, welche die Debatte ums Schächten begleitete. Beispielhaft steht dafür das Votum des BGB-Nationalrats und Veterinärmediziners Walter Degen im Jahr 1973: «So, wie wir die Volksseele kennen, glauben wir niemals an die Aufhebung des jetzigen Schächtverbotes.»

Schächtartikel verschwand 1973 aus der Verfassung

Wie schon so oft beugten sich damals die Bundesparlamentarier über das Schächtverbot. Eigentlich sollte die Zeit für eine Ausnahmebestimmung für rituelles Schlachten günstig sein. Denn 1973 wurde über die bereits 1848 in die Verfassung gelangten Ausnahmegesetze für die Katholiken – Verbot der Niederlassung von Jesuiten in der Schweiz und Unterbindung neuer Orden – diskutiert und schliesslich in einer Abstimmung konstitutionell getilgt.

Wenn die Volksseele aber aus dem Bauch entscheidet und es um jüdische Ritualgesetze geht, war es mit der religiösen Toleranz nicht weit her. Wie bereits bei Anläufen zuvor wurde der Vorstoss, das Schächtverbot aufzuheben, mit dem Hinweis auf die negative Stimmung im Volk verworfen. Der merkwürdig anmutende Schächtartikel verschwand 1973 aus der Verfassung, wurde aber auf dem Verordnungswege weiterhin aufrechterhalten. 

Anfangs des 21. Jahrhunderts dachte Bundesrat Pascal Couchepin, die Zeit sei nun reif, um eine Ausnahmebestimmung des betäubungslosen Schlachtens aus rituellen Gründen zuzulassen. Er scheiterte am Widerstand der Tierschutzorganisationen, des Bauernverbands und vieler Parlamentarier. Später gestand er gegenüber der jüdischen Zeitung «Tachles» ein, wie «überrascht von der Heftigkeit der Reaktion» er war.

Es war der Schweizerische Israelitische Gemeindebund  (SIG) selbst, der um die Sistierung der Gesetzesänderung gebeten hatte, um eine antisemitisch gefärbte Abstimmungskampagne zu vermeiden. Immer wieder hat der SIG versucht, im Namen der religiösen Toleranz und Kultusfreiheit rituelles Schächten zuzulassen. Die Schächtfrage war eines der wichtigen Anliegen, die zu seiner Gründung führte.

Verbotsaufhebung ist heute kein Thema mehr

Hat der SIG heute einen neuen Vorstoss in der Pipeline? Generalsekretär Jonathan Kreutner winkt ab: «Die heutige gesellschaftspolitische Ausgangslage macht eine Aufhebung des Schächtverbots wenig wahrscheinlich. Der SIG konzentriert sich darum im Moment auf das Ziel, den Import von geschächtetem Fleisch in die Schweiz zu verteidigen.» Kreutner erinnert sich an das Jahr 2017, als der Berner SP-Nationalrat Matthias Aebischer eine Motion einreichte, um den Importstopp für alle «tierquälerisch erzeugte Produkte» zu erlassen.

Damals machte Katharina Büttiker, Gründerin von Animal Trust, die zusammen mit Aebischer die Motion erarbeitete, gegenüber dem «Tages-Anzeiger» klar, dass nicht nur gestopfte Gänseleber und Froschschenkel im Visier des Vorstosses stünden, sondern auch das Fleisch von geschächteten Tieren. Während der Nationalrat der Motion zustimmte, versagte der Ständerat ihr die Zustimmung.

Kreutner befürchtet, dass jederzeit wieder Vorstösse in diese Richtung gemacht werden könnten. «Während Probleme bei der konventionellen Schlachtung geflissentlich übersehen werden, könnten dann tierethisch begründete Verbote 18'000 Schweizer Juden das Leben schwer machen.»

Pfarrer und Ethiker sieht doppelte Standards

Der Zürcher Pfarrer und Ethiker Christoph Ammann sieht in der Debatte um geschächtetes Fleisch ebenfalls doppelte Standards: «Da werden höhere Ansprüche an die jüdische Minderheit gestellt als für die konventionell industrielle Schlachtung.» Es gebe belastbare Untersuchungen, die erhebliche Mängel bei der Betäubung von Schlachttieren nachweisen.

Als Präsident des Vereins Arbeitskreises Kirche und Tiere (AKUT) ist Ammann selbst in enger Tuchfühlung mit vielen Tierschützerinnen und -schützern. Dass sich diese beim Konflikt von Religionsfreiheit und Tierwohl für Letzteres entscheiden, versteht er. Aber der Tierethiker gibt zu bedenken: «In der Gesamtbetrachtung müssen immer die Minderheitensituation der jüdischen Bevölkerung und ihr Recht auf Religionsfreiheit mitbedacht werden.»

Verglichen mit den grossen Massen von unter problematischen Umständen geschlachteten Tieren sei das Schächtfleisch vergleichsweise ein kleines Problem. Ammanns Fazit: «Dass seit über 130 Jahren der Fokus auf das Schächten gelegt wird, zeigt: Diese Debatte ist bis heute antisemitisch vergiftet.»

Antisemitische Tierfreundeund das Schächtverbot

Sommer 1893: Der ewige Jude geht im Schweizer Land um – mit lüsternem Blick, mit lang gebogener Nase und mit einem Gegenstand, mit dem er den helvetischen Volkskörper aufschlitzen kann: dem Schächtmesser. Nun soll ihm dieses Ritualmordinstrument entrissen werden. Schweizweit mobilisieren Tierschutzvereine und Antisemiten, um das Schächten aus allen Schlachthöfen zu verbannen. So beginnt die Premiere des 1891 verankerten Volksrechts der Verfassungsinitiative mit dem Verbot des jüdischen Schächtritus. Sechzig Prozent der Bevölkerung stimmen der Vorlage zu.

Den Juden Mores lehren

Endlich soll gezeigt werden, wer hier Herr im Haus ist. Zeitungsverleger Ulrich Dürrenmatt, Grossvater des berühmten Schriftstellers, reimt es sich in der Buchsi-Zeitung so zusammen: «Wenn wir ihm nicht Meister werden / Wird der Jude unser Meister.»

Vor allem die protestantisch geprägten Kantone Aargau (90 %), Bern (80 %) und Zürich (86 %) verhelfen dem Schächtverbot zum Durchbruch. Katholische Kantone dagegen sammelten weder Unterschriften noch beteiligten sich viele an der Abstimmung. Das überrascht. Denn 1866, als es um die Niederlassungsfreiheit der Juden ging, polemisierte die katholische Presse über «jüdische Landplage».

Der Grund für die Kehrtwende: Die Schweizer Bischöfe und die katholisch-konservative Presse wollten nach überstandenem Kulturkampf nicht die Tür für weitere Ausnahmegesetze öffnen, die die  Glaubensfreiheit hätten aushebeln können.

Die Zürcher «Freitagszeitung» entgegnete den Katholiken in rassistischer Manier: Man könne doch nicht so weit gehen, «dass wir auch die Kultusfreiheit der Fetisch-Neger mit ihren Gottesgerichten und die alten Begräbnissitten der Hindus mit ihrer Witwenverbrennung schützen müssten.»

Umstrittene Stichmaske

Hingegen argumentierte der reformierte Pfarrer Philipp Heinrich Wolff aus dem Zürcher Weiningen theologisch. Wolff, Präsident des «Schweizerischen Zentralvereins zum Schutz der Thiere», deklarierte: Bei genauer Prüfung des Alten Testaments bestehe keine Pflicht für die Juden zum Schächten.

Aber war das Schächten, also der rasche Schnitt durch die Halsschlagader eines Tieres, wirklich grausamer als die konventionelle Schlachtmethode? Damals war die Stichmaske im Schwange, die von den Tierschützern als Fortschritt gefeiert wurde. 

Mit einem Hammerschlag wurde ein Nagel in die Schädeldecke eines Rindes gerammt. Häufig brauchte es mehrere Schläge, bis die erwünschte vorhergehende Betäubung des Tieres eintrat.

Deshalb waren sich tiermedizinische Experten bis auf eine kleine Minderheit in einem einig, wie das «Zuger Volksblatt» am Vortag der Abstimmung schrieb: «Dass das Schächten eine besonders qualvolle Tötungsart sei, ist nicht bewiesen. Im Gegenteil wird von ersten Autoritäten auf dem Gebiete dargethan, dass beim Schächten das Tier viel weniger gequält wird, als bei den meisten zur Zeit gebräuchlichen Schlachtarten.»