Recherche 27. Mai 2015, von Franz Osswald

Über Quantenmechanik zu Gottes Wirklichkeit

Naturwissenschaft

Für den Astrophysiker Arnold Benz ist klar: Das Universum ist keine Schöpfung Gottes. Spricht der Physiker von ihm, hat das mit Benz' persönlichem Leben zu tun.

Herr Benz, es gibt Menschen, die sagen, dass sie Gott und seine Schöpfung in der Natur erfahren. Was meinen Sie als Naturwissenschaftler dazu?

Eindrucksvolle Erlebnisse in der Natur habe ich auch schon gemacht. Nachts in den Bergen, der Sternenhimmel wölbt sich über einen. Das ist ein überwältigender Anblick. Diese Erfahrung kann ich ohne naturwissenschaftliche Kenntnisse machen. Ich würde dem Naturmystik sagen.

Und wenn Sie den Himmel mit den Augen eines Astrophysikers betrachten?

Dann verliere ich das Staunen dennoch nicht. Ja, ich bin überzeugt, dass ohne dieses Staunen die Motivation zum Beobachten, Messen und Fragen nicht ein Leben lang anhalten kann. Selbst mit dem, was man heute über das Universum und seine Entstehung weiss, ist es nicht selbstverständlich, dass das ganze System funktioniert. Aber Staunen und Neugierde sind eben keine Fachbereiche der Astrophysik.

Schöpfung setzt einen Plan voraus. Ist dieser aus naturwissenschaftlicher Sicht gegeben?

Ein Plan oder Design ist nur ein Bild, eine Metapher. Das Bild eines Architekten, der ein Haus plant und es dann entsprechend baut. So läuft es im Universum nicht ab. Zwar herrschen dort klare Gesetze, aber im Ablauf spielt der Zufall mit.

Könnte man die unterschiedlichen Betrachtungsweisen mit einem Sternbild vergleichen? Von der Erde aus ist das Sternbild Orion zu sehen. Für Naturwissenschafter ergeben diese Sterne aber kein Bild, weil sie nicht auf einer Ebene liegen, sondern unterschiedlich weit entfernt sind.

Ja, dem ist so. Was wir von der Erde aus als Sternbilder sehen, entspricht einer Scheinwelt, denn die Tiefe des Bildes, also die unterschiedliche Entfernung der einzelnen Sterne, ist mit den Augen nicht erkennbar. Helle Sterne können sehr weit entfernt sein, schwache relativ nahe. Das weiss man aber erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts.

Wann würden Sie denn von Schöpfung sprechen?

Das Konzept der Schöpfung hat mit Erfahrung und mit Gegenwart zu tun. Es ist kein Vorgang, der vor langer Zeit einmal abgeschlossen wurde, wie im ersten Schöpfungsbericht in der Bibel berichtet wird. Das Universum ist immer noch im Entstehen – verbunden mit Werden und Vergehen. Dem Aspekt der fortlaufenden Schöpfung wird der zweite biblische Schöpfungsbericht gerecht. Da wird der Mensch geschaffen und dann einmal geschaut, was es nun noch zu seinem Glück braucht.

Entspricht das eher Ihrem Schöpfungsbegriff als Naturwissenschaftler?

Ja, es ist das, was im Universum abläuft. Es entsteht etwas, aber es ist nicht fertig. Obwohl alles nach bestimmten Gesetzen abläuft, ist nicht von Anfang an bestimmt, wohin die Entwicklung führt.

Vergleichbar mit dem Schmetterlingseffekt beim Wetter?

Genau. Das Wetter entwickelt sich chaotisch. Eine kleine Störung wie der Flügelschlag eines Schmetterlings kann das System unter Umständen entscheidend beeinflussen. Man kann nicht voraussagen, in welche Richtung sich das System dann entwickelt. Diese Instabilität gibt es auch im Universum. Obwohl wir immer mehr wissen, bleibt die Zukunft offen und neue Fragen stellen sich.

Nach dem Motto «je mehr ich weiss, desto bewusster wird mir, dass ich nichts weiss»?

Nicht gerade nichts, aber sehr wenig. Die Berechnung der Planetenlaufbahnen war noch eine einfache Sache. Je grösser und komplexer aber das System wird, desto schwieriger wird es, vorauszusagen, wie es sich entwickelt.

Gilt dies auch bei der Erforschung des Urknalls?

Da sind selbst die Regeln nicht bekannt. Es gibt allerdings Versuche, zum Beispiel wie aus einem Vakuum ein Universum modelliert werden kann.

Ist die Forschung dem Nullpunkt aber nicht bereits zum Greifen nahegekommen?

Das schon. Aber ob man eine milliardstel Sekunde oder eine billionstel Sekunde davon entfernt ist, macht einen riesigen Unterschied in der Physik. Ich möchte den Urknall indes nicht überbetonen, auch wenn es aus meiner Sicht keinen Grund gibt, die Theorie des Urknalls abzulehnen. Das wäre pure Dummheit. Das Modell ist zwar «nur» eine Theorie, aber eine, die sich seit rund 50 Jahren bewährt. Sie ist mindestens so plausibel und belegt wie die Evolutionstheorie. Gott muss man weder im Urknall noch in der Evolutionstheorie suchen.

Wenn das Universum gottlos ist, wo ist Gott dann zu finden?

Wenn ich von Gott rede, dann hat das etwas mit meinem persönlichen Leben zu tun. Für mich heisst Schöpfung, dass mir etwas geschenkt wird, das nicht selbstverständlich ist. Zum Beispiel meine Lebenszeit. Schon das ist ein Wunder. Zeit, dank der ich jede Sekunde etwas Neues erfahren kann. Auch das Universum braucht Zeit, damit es entstehen kann. Ja, selbst der Zufall benötigt Zeit.

Wie steht es mit dem Zeitbegriff im Universum?

Das Universum ist wie unser Leben durch die Zeit begrenzt. Über den Urknall hinaus ist nichts zu sehen. Dieser Zeitpunkt stellt eine Grenze dar. Auch räumlich definiert die Zeit den Horizont, nämlich wie weit wir sehen können. Zwar liegt wahrscheinlich noch etwas hinter dem, was wir mit unseren heutigen Mitteln erkennen können. Aber der Ursprung des Universums ist für uns nicht sichtbar, liegt im Dunkeln. Das allein zeigt schon, dass das ganze Universum mehr ist, als wir mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen erklären können.

Wie meinen Sie das?

Sicher finden wir im wissenschaftlich Unerklärten nicht einfach eines Tages Gott. Im Gegenteil. Das Staunen über das Erklärbare ist bereits jenseits der naturwissenschaftlichen Grenzen. Mit unseren Methoden können wir dieses Staunen nicht messen. Unser Leben ermöglicht mehr als das, was mit naturwissenschaftlichen Methoden erklärbar ist. Religion, Kunst, Liebe, Trauer können mit Chemie und Physik nicht abschliessend beschrieben werden. Der Mensch kann mehr wahrnehmen als das Messbare. Das ist leider nicht jedem Naturwissenschaftler klar. Die Wirklichkeit ist grösser als das, was die Naturwissenschaft in den Griff bekommen kann.

Sie sprechen die Wirklichkeit an. In der Quantenmechanik entsteht Wirklichkeit in dem Moment, wo man etwas beobachtet, sich etwas Bestimmtem zuwendet. Sonst bleibt es nur wahrscheinlich. Könnte man diesen naturwissenschaftlichen Sachverhalt nicht auch auf Gottes Wirklichkeit anwenden?

Oh, das ist eine sehr schöne Beschreibung, ein zutreffendes Bild. Gott sagt ja in der Bibel von sich selbst, «ich bin, der ich sein werde». Das Bild aus der Quantenmechanik auf die Religion angewandt, hiesse dann: Wenn ich mich in diesem Augenblick Gott zuwende, dann ist er da, wird Wirklichkeit. Sonst bleibt er wahrscheinlich und eine Theorie. Oder wenn ich den funkelnden Sternenhimmel erlebe. Dann kann Gott im staunenden Beobachten Wirklichkeit werden. Das ist Schöpfung in einem geschenkten Universum – von einem Schenkenden.

(Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».)

Arnold Benz, 70

ist Astrophysiker. Die Astronomie faszinierte ihn schon als Junge und die Theologie interessiert ihn seit der Konfirmation. Auf seiner Webseite äussert er sich in zwölf Thesen zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Glaube. Vor seiner Emeritierung 2010 war Benz Professor in Physik an der ETH Zürich. Die Universität Zürich verlieh ihm 2011 den Ehrendoktor für interdisziplinäres Schaffen. Benz ist seit 1998 Schweizer Leiter des Herschel-Teleskop-Projekts. Das Weltraumteleskop der Europäischen Raumfahrtagentur ESA war von 2009 bis 2013 in Betrieb. Auch als Buchautor befasste sich Arnold Benz mit dem Verhältnis von Physik und Theologie: «Würfelt Gott? Ein ausserirdisches Gespräch zwischen Physik und Theologie», «Das geschenkte Universum. Astrophysik und Schöpfung» und «Die Zukunft des Universums. Zufall, Chaos, Gott?».

www.arnoldbenz.ch