Recherche 04. Juli 2022, von Christian Kaiser

Anne Franks Tagebuch bleibt 75 Jahre nach Erscheinen aktuell

Holocaust

Vor 75 Jahren erschien die Erstausgabe von Anne Franks Tagebuch auf Holländisch. Eine Ausstellung im Landesmuseum beleuchtet die Beziehung der Familie Frank zur Schweiz.

Es hätte alles so gut sein können. Paradiesisch weitergehen. Die Franks waren eine wohlhabende, grossbürgerliche Frankfurter Familie, die ihre Sommer im Engadin verbrachte und die Winter in Adelboden. In Sils-Maria wohnten die Franks auf Einladung einer Pariser Cousine in der Villa Spitzer am Eingang ins Fextal.

Anne Frank war ein aufgewecktes, lebenslustiges Mädchen. Zeitzeugen, die mit ihr gespielt haben, erinnern sich an diese glückliche Zeit. Allen voran ihr Cousin Bernd "Buddy" Elias. Bevor er 2015 verstarb, erzählte er gern von gemeinsamen Kasperlitheaterspielen oder Verkleidungen, wenn Anne ihn in Basel besuchte.

Die heile Welt im Engadin

Anne bewunderte Buddy als grossartigen Schlittschuhläufer: «Ich hoffe, dass ich auch so gut Schlittschuh fahren lerne wie Bernd ... vielleicht könnten wir später zusammen auftreten», schrieb sie 1941 an ihre Grossmutter. Nach dem Krieg wollte sie als weisser Schwan über die vereisten Seen des Oberengadins tanzen.

Auch mit den Silser Dorfkindern soll sie 1936 in der Laube unter den Tannen mit Puppen gespielt und Zvieri gegessen haben, bevor sie ein Chauffeur mit einer Limousine abholte. Einer Spielkameradin soll sie damals eine blaue Vase geschenkt haben, die heute im Nietzsche-Museum in Sils aufbewahrt wird: «Tu Blumen hinein, dann denkst du immer an mich», soll sie gesagt haben, wie das Bündner Tagblatt 2015 berichtete.

Im Dialog mit Kitty

Nur wenige Jahre später schrieb Anne Frank im Versteck der Franks im weltberühmten Hinterhaus an der Prinsengracht 263 in Amsterdam in ihr Tagebuch: «Du weisst längst, dass mein liebster Wunsch ist, einmal Journalistin und später eine berühmte Schriftstellerin zu werden.» Inzwischen weiss die halbe Welt, dass das Du in diesem Satz ihrem Tagebuch galt, dem sie den Namen «Kitty» gegeben hatte. Ob ihr das mit der Schriftstellerei gelinge, werde sich zeigen, Themen habe sie jedenfalls genug. «Nach dem Krieg will ich auf jeden Fall ein Buch mit dem Titel 'Das Hinterhaus' herausgeben. Ob mir das gelingt, ist auch die Frage, aber mein Tagebuch wird mir als Grundlage dienen können.»

Nur der Vater hat überlebt

Dieser Eintrag datiert vom 11. Mai 1944. Nicht einmal drei Monate später, am 1. August 1944, schrieb sie ihre letzten Zeilen an Kitty. Am 4. August 1944 entdeckten die Nationalsozialisten die Familie in ihrem Versteck und deportierten sie im September 1944 nach Auschwitz. Dort stirbt die Mutter Edith Frank im Januar 1945. Auch Anne und ihre Schwester Margot sterben im März 1945 im KZ Bergen-Belsen, vermutlich an Typhus. Der einzige Überlebende von acht im Hinterhaus Versteckten ist Annes Vater Otto Frank.

Die Erstausgabe erschien vor 75 Jahren

Als er nach dem Krieg nach Amsterdam zurückkehrt, übergibt ihm Miep Gies ein Poesiealbum,  zwei Notizhefte und rund 300 lose Einzelseiten, die sie nach der Verhaftung im Versteck gefunden hatte. Gies war eine der Helferinnen, welche die Versteckten im Hinterhaus versorgten – ihr Bericht über diese Zeit liegt seit 1987 in Buchform vor. Otto Frank las die Notizen seiner Tochter im Herbst 1945 und beschloss – nach anfänglich tiefer Erschütterung – sie in einer überarbeiteten Version zu veröffentlichen, welche das Andenken an die Verstorbenen nicht trüben sollte.

Schliesslich erfüllte der Vater Annes Wunsch: 1947 erschien die Erstausgabe von «Das Hinterhaus» auf Holländisch in 3000 Exemplaren. Ein Dreivierteljahrhundert später ist es in 80 Sprachen übersetzt und zählt zu den weltweit meistgelesenen Büchern. Ihr Cousin Buddy Elias brachte den Grund für das Interesse auf den Punkt: «Anne hat dem Holocaust einen Namen gegeben», sagte er verschiedentlich in den Medien und betonte mehrfach Annes sehr gute Beziehung zur Schweiz.

Die Ausstellung im Landesmuseum erzählt die unterschiedlichen Schicksale der beiden Familien Frank und Elias eindrücklich

Die Ausstellung im Landesmuseum erzählt die unterschiedlichen Schicksale der beiden Familien Frank und Elias eindrücklich

Annes Vater, Otto Frank, der einzige Überlebende der Familie Frank, hat im 1. Weltkrieg als Wehrmachtssoldat das Bundesverdienstkreuz erworben. Trotzdem ist auch für ihn und seine Familie die Situation nach der Machtergreifung der Nazis in Frankfurt zu unsicher und er emigriert wie viele andere Juden 1933 nach Amsterdam. Um den Unterhalt seiner Familie zu sichern, gründet er dort eine Firma, die Geliermittel für Konfitüren herstellte: Opekta. Anne besucht in Amsterdam den Montessori-Kindergarten. Bis 1936 besucht sie regelmässig ihre Schweizer Verwandtschaft und schreibt ihrer Grossmutter in Basel viele Briefe.

Otto Franks Schwester Helene Elias-Frank war mit ihrer Familie bereits 1929 nach Basel gezogen. Auch die beiden Grossmütter Annes finden in Basel Zuflucht. Weil ihnen als Juden die Deutsche Staatsbürgerschaft entzogen wurde und sie ab 1941 ohne Pass in der Schweiz als Staatenlose lebten, drohte aber auch ihnen die Ausweisung. «Flüchtlinge nur aus Rassegründen, zum Beispiel Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge», hiess es in einem Kreisschreiben der Eidgenössichen Polizei vom August 1942. Bundesrat von Steiger verteidigte die rigorose Haltung der geschlossenen Grenzen vor dem Parlament mit den Worten: «Die Behörden haben die Pflicht ... den Zustrom in tragbaren Grenzen zu halten.»

Die Situation in Amsterdam war aber noch viel gefährlicher. Nach der Besetzung 1940 hatten die deutschen Rassengesetze auch in den Niederlanden Gültigkeit, Juden wurden verhaftet und deportiert. Die Franks zogen ins Hinterhaus, wo Anne den grössten Teil ihres Tagebuchs schrieb. Sie hatte es zum 13. Geburtstag erhalten und schrieb fast zwei Jahre daran. Wer die Familie verraten hat, ist bis heute Gegenstand wilder Spekulationen. Mit Gewissheit herausfinden, wird man es wohl nie, gab Martin Dreyfus, Stiftungsrat des Anne-Frank-Fonds, an der Eröffnung zu bedenken. Tatsache ist: Die Gestapo (Geheime Staatspolizei) bezahlte für Verrat.

Um die Bedeutung der aktuellen Ausstellung im Landesmuseum herauszustreichen, zitierte Martin Dreyfus Otto Frank: «Was geschehen ist, können wir nicht mehr ändern. Das Einzige, was wir tun können, ist, aus der Vergangenheit zu lernen.» Es gelte zu erkennen, was die Diskriminierung und Verfolgung unschuldiger Menschen anrichten könne. Dieses Credo sei auch 75 Jahre nach der Publikation des Tagebuchs aktuell: «Dafür steht das Tagebuch Anne Franks auch heute noch als Manifest».

Ausstellung: Anne Frank und die Schweiz, Landesmuseum bis 6. November 2022

Verbreitung von Basel aus

Am 5. April 1944 hatte Anne in ihr Tagebuch geschrieben: «... werde ich jemals etwas Grosses schreiben können, werde ich jemals Journalistin und Schriftstellerin werden?» Was sie damals nicht wusste: Sie war Schriftstellerin, sie hatte Grosses geschrieben, kaum jemand von den Allergrössten hat mehr Leserinnen gefunden als sie. Otto Frank war von dem Erfolg des Buches jedenfalls total überrascht. Die Anne-Frank-Stiftung in Basel hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung an den Holocaust hochzuhalten. Stiftungsrat Martin Dreyfus sieht das als eine wichtige Aufgabe, denn mit dem Tod der letzten Zeitzeugen wird der Holocaust Geschichte. Gegründet wurde die Stiftung von Otto Frank 1963 als Universalerbin und Rechtsnachfolgerin.

Doch weshalb ging das Tagebuch von Basel aus rund um die Welt. Anne Franks Vater war 1952 nach Basel gezogen und wohnte eine Weile lang bei der Familie seiner Schwester. Die Stiftung verteidigt die Buchrechte an überarbeiteten und übersetzten Versionen, denn diese bilden eine wichtige Einnahmequelle. Die Mittel setzt die Stiftung ein, um das Buch zu verbreiten, in Schulen Aufklärungsarbeit über den Holocaust zu betreiben, aber auch für karitative Zwecke und wissenschaftliche Forschung. Zuletzt ist Annes Geschichte kinder- und jugendgerecht bei S. Fischer als Bildband, "Graphic Diary" erschienen.

Anschauungsunterricht und Erinnerungsarbeit

Noch bis 6. November geht eine sehenswerte Ausstellung im Landesmuseum all diesen Verbindungen der Familie Frank zur Schweiz über die Jahrzehnte nach: von der heilen Postkartenschweiz für sorglose Ferientage anfangs der 30er-Jahre über die dunklen Kapitel der Schweizer Flüchtlingspolitik während des Krieges und die familiären Verbindungen nach Basel bis hin zur Verbreitung des Buches über den Globus von Basel aus, inklusive Theater- und Filmbearbeitungen.

An der Eröffnung verlieh Martin Dreyfus von der Anne-Frank-Stiftung seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Ausstellung viele Schulklassen und junge Geschichtsinteressierte anlockt. Jetzt, wo die Opfer und Zeitzeugen des Holocausts langsam aussterben, werden die Nazigräuel vom Zeitgeschehen zur Geschichte. Die Ausstellung bietet guten Anschauungsunterricht, wie man Historie vermitteln kann, um aus ihr zu lernen, damit Ähnliches nie wieder geschieht.