«Ein ganzheitlicher Schönheitsbegriff»

Theologie

«Bildschön», so der Titel der Veranstaltung Frauenmahl in Da­vos. Im Gespräch erklärt Nancy Rahn, welche Bedeutung Schönheit in alttestamentlichen Texten hat.

Wie wird denn der Begriff «Schönheit» in den alttestament­lichen Texten gebraucht?

Nancy Rahn: Der Ausgangspunkt des Inputs beim Frauenmahl war, dass in unserer Gesellschaft oft Schönheit und Weiblichkeit beziehungsweise Frauen zusammen gedacht wer­den. Im Alten Testament werden jedoch auch Männer als schön bezeichnet. Und Schönheit bezieht sich nicht nur auf Menschen, sondern sie wird vielmehr auch umfassend gebraucht.

Können Sie diesen umfassenden Begriff von Schönheit noch ausformulieren?

In der altorientalischen Kultur, in der die Texte des Alten Testaments entstanden sind, werden die Grenzen zwischen dem Inneren und dem Äusseren noch nicht so eng gezogen. Schön bedeutet dort auch schönes Handeln, eine Bewegung, die Augen, die anziehende Botschaften senden. Eine Gemeinschaft kann schön sein, die Natur oder auch die Ausstattung des Tempels. Wir sind als Menschen mit unseren Sinnen in Kontakt mit der Welt, und das wird im Alten Tes­tament ernst genommen.

Wenn wir jetzt auf die Schönheit im Zusammenhang mit Frauen  zu sprechen kommen, was findet sich dazu im Alten Testament?

Stark finde ich, dass wir im Alten Testament so viele Perspektiven bekommen.  In den Erzählungen über Frauen, die ihre Schönheit einsetzen oder die schön sind, wird gezeigt, dass die Wahrnehmung und Zuschreibung von Schönheit diskutiert werden kann. Schönheit kann eine Frau in Gefahr bringen, sie kann aber auch vielen zugutekommen. Die alttestamentlichen Frauenfiguren Judit und Ester sind ein Beispiel dafür. Sie nutzen ihre Schönheit und ihr Auftreten, um ihre Gemeinschaft aus gewaltvollen Strukturen zu befreien. Hier ist die Schönheit positiv gewertet, die beiden Frauen bedienen sich der Schönheit, um zu handeln.

Und was gibt uns Frauen und Menschen von heute dieser Schönheitsbegriff aus dem Alten Testament?

Wir können sehen, dass hier ein breiter Begriff von Schönheit vorgestellt wird. Es gibt kein Gegeneinanderausspielen von Äusserem und Innerem. Weder zählen nur die inneren Werte, noch ist das Äussere völlig unwichtig. Ich denke, das ist ein realistischer Umgang mit Schönheit. Denn als Menschen nehmen wir ja über unsere Sinne wahr. Wir schätzen einen Menschen auch danach ein, wie er uns entgegentritt. Die Texte zeigen hier eine ganzheitliche Sicht, von der wir noch etwas lernen können.


Inwiefern?

Die alttestamentlichen Texte können uns animieren, wieder mehr in die Breite zu denken. Etwa, warum habe ich dieses bestimmte Schönheitsideal? Weshalb speichere ich eine bestimmte Person als «schön» bei mir ab?

Wie nehmen Sie den heutigen Begriff von Schönheit wahr?

Es ist bis heute Teil von patriarchalen Strukturen, dass die Schönheit von Frauen entweder abgewertet wird oder die Frauen auf ihre Schönheit reduziert werden. Aktuell sehe ich das in den sozialen Medien – einer Welt, in der es stark um das Äussere oder die Darstellung von Körpern geht. Den Frauen, die sich hier bewegen, wird oft gesagt: «Das ist kein richtiger Job» oder «So wird nur der Körper verkauft». Solche Vorwürfe müssen sich jedoch Männer, die ebenfalls in dem Bereich arbeiten, weniger anhören.

Gibt es im AT eine Frau, die Ihnen besonders Eindruck gemacht hat?

In den Samuel-Erzählungen taucht die kluge Frau von Tekoa (2 Sam 14,1–33) auf. Sie rettet ihr Volk durch sehr kluges Beobachten und durch die Schauspielkunst. Diese tiefsinnigen Erzählungen regen mich immer wieder zum Nachdenken an.

Nancy Rahn, 34

Die gebürtige Berlinerin ist Postdoktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Altes Testament der Universität Bern. In ihrem Forschungsprojekt beschäftigt sie sich mit Emotionen und Empathie in alt-testamentlichen Texten und deren Bedeutung für Gottes- und Menschen-bilder in antiker Literatur.