Recherche 02. November 2021, von Felix Reich

Die protestantische Krisenkanzlerin

Politik

Über ihren Glauben sprach Deutschlands Langzeitkanzlerin Angela Merkel selten, geprägt hat er die Pfarrerstochter aus der DDR dennoch.

Ohne Umschweife outet sich Christina Aus der Au als Merkel-Fan: «Sie ist eine supercoole, ganz und gar uneitle Frau», sagt die Theologin über die deutsche Kanzlerin, die nach 16 Jahren im Amt bei der Bundestagswahl nicht mehr angetreten ist und nun noch im Amt bleibt, bis die neue Koalitionsregierung steht.

Das verschwörerische Grinsen

Aus der Au moderierte 2017 am evangelischen Kirchentag in Berlin ein Gespräch mit Angela Merkel und dem früheren US-Präsidenten Barack Obama. Sie beschreibt einen Moment abseits des Podiums, als sich die prominenten Gäste für einen Fototermin formierten.

Obama ging vorne etwas in die Knie, so dass Merkel ihm hätte den Fuss auf die Schulter stellen können. «Ich habe ihr das pantomimisch signalisiert», erzählt Aus der Au. Merkel habe prompt eine entsprechende Be­wegung angedeutet. «In unserem verschwörerischen Grinsen war alle Frauenpower der Welt gegen die mächtigen Männer vereint.»

Die Freiheit im Zentrum

Ihren Glauben deklarierte Merkel, die als Pfarrerstochter in der ehema­ligen DDR aufgewachsen ist, zwar als Privatsache. Doch die Christnachtsfeier in den Winterferien in Pontresina liess sie selten aus. Und am Reformationstag 2014 folgte sie der Einladung in die Maria-Magdalenen-Kirche in Templin, in der sie konfirmiert worden war.

In ihrem Vortrag bezeichnete die Kanzlerin die Freiheit als zentralen Begriff der christlichen Botschaft: «Gott wollte keine Marionetten, kei­ne Roboter, keine Menschen, die ein­fach tun, was sie gesagt bekommen.» Als politische Herausforderungen, bei denen ihr der Glaube besonders wichtig wurde, nannte sie «Fragen von Krieg und Frieden».

Aus der Deckung gekommen

Ihr Politstil sei gekennzeichnet durch «protestantische Kargheit und christliche Ethik». So formulierte es die einstige Bischöfin und Re­forma­tionsbotschafterin Margot Kässmann im NDR-Podcast «Mensch Mar­got». «Dass sie evangelisch ist, war ihr anzumerken.» Insbesondere in der Flüchtlingskrise 2015, als sich die CDU-Politikerin gegen die Schliessung der Grenzen entschied. 

Es war die Zeit, als Angela Merkel ihre Zurückhaltung ablegte und sich ungewohnt pointiert äusserte. In Erinnerung bleibt ihr Satz, mit dem sie der aggressiven Kritik an ihrer Flüchtlingspolitik entgegentrat: «Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.»

Keine Selbstverständlichkeiten

Merkel-Biograf Ralph Bollmann be­tonte zuletzt in einem Interview mit dem «Standard» die ostdeutsche Herkunft der Kanzlerin. «Als Pfarrerstochter war sie in einer Aussenseiterposition.» Durch die «Erfahrung des Systemumbruchs» sei sie besser vorbereitet gewesen auf die jüngsten Krisen als viele westeuropäische Politiker. Demokratie und soziale Marktwirtschaft waren für Merkel nicht einfach Gewohnheiten, sondern Errungenschaften.

Vielleicht war es diese Prägung, die sie zu jener Kanzlerin machte, deren historische Leistung es ist, krisenfest gewesen zu sein. Jedenfalls hätte sie ohne die Ausnahmesituationen von der Finanzkrise bis zur Pandemie «kaum 16 Jahre lang regiert», sagt Bollmann.