Recherche 25. Januar 2024, von Anouk Holthuizen

Wird der Beschluss rückgängig gemacht?

Sexualpädagogik

Das Aargauer Kirchenparlament kürzt einer Fachstelle zum Thema Sexualität, die sie selbst mitgründete, die Gelder und begünstigt stattdessen eine mit freikirchlichem Hintergrund.

Dieser Antrag wurde unglaublich schnell genehmigt: An der letzten Synode der Aargauer Landeskirche schlug der Brittnauer Kirchenpfleger Andreas Graber vor, den jährlichen Beitrag von 10 000 Franken an die Fachstelle Sexuelle Gesundheit Aargau (Seges) auftzuteilen. Die Seges solle nur 5000 Franken bekommen, die andere Hälfte das Schweizerische Weisse Kreuz (SKW). Auch jener Verein leiste Sexualpädagogik an Schulen, aber auf Basis christlicher Grundwerte. Gra-ber würdigte die Arbeit der Seges, doch in der Unterstufe treibe sie die sexuelle Aufklärung auf die Spitze. «Da geht es vorwiegend um Sexualität. Das Kind wird auf seinen Körper und seine Lust reduziert.» Das Weisse Kreuz aber gehe altersgerecht vor und richte sich primär auf Beziehungen aus.   

Zu rasch, zu unvorbereitet 
Ohne Wortmeldung wurde der Antrag angenommen, und zwar mit deutlichem Mehr. Erst am Ende der Sitzung trat Christian Vogt, Pfarrer in Frick, ans Mikrofon und bat die Synode, das Thema an der nächsten Sitzung nochmals aufzunehmen. Es sei fragwürdig, wenn die Kirche eine Organisation unterstütze, die laut Wikipedia in Verbindung mit Konversionstherapien für Homosexuelle gebracht werde und diese mit Pädophilen in einen Topf werfe.  

Gegner des Antrags zeigten sich nach Synodenende irritiert, darunter Bettina Meyer. «Die Kirche sollte nicht Organisationen unterstützen, die Menschen ausschliessen. Wir hätten verlangen sollen, dass wir darüber erst diskutieren müssen. Aber niemand war vorbereitet.» Die Fraktionen seien nicht genug über den Antrag informiert worden.

Wir hätten ver­langen sollen, dass darüber erst diskutiert wird. Aber niemand war vorbereitet.
Bettina Meyer, Synodale

Brisant ist: Die Landeskirche ist im Vorstand der Seges. Sie gehörte 1974 sogar zu den Gründern der Beratungsstelle für Familienplanung, die 2016 mit der Aids-Hilfe Aargau fusionierte und fortan als Seges Beratung rund um Sexualität, Schwangerschaft und sexuell übertragbare Krankheiten sowie Bildungsarbeit in Schulen leistet. Vielen Synodalen ist das nicht bekannt, auch Andreas Graber wusste es nicht. 

Brisant ist auch: Die Seges arbeitet gar nicht auf der Unterstufe. Geschäftsleiter Michael Ganz sagt: «Unsere Workshops finden frühstens ab der sechsten Klasse statt, selten mal in einer fünften. Wir haben einen Leistungsauftrag vom Kanton Aargau und gehen nur auf Anfrage in Schulen.» Die Kritik, Seges reduziere Kinder auf ihren Körper, findet Ganz absurd. «Wir arbeiten altersgerecht mit den Fragen, welche die Jugendlichen uns vorab mitteilen. Es geht um Liebe, Freundschaft, Pubertät und Sexualität.» Dabei halte sich die Fachstelle an internationale Standards von WHO und UNO. 

Gegenüber «reformiert.» räumte Andreas Graber ein, dass die «Übersexualiserung» im Aargau weniger ein Thema sei, es ihm aber um finanzielle Gerechtigkeit gehe. Von der Arbeit des SWK ist er so oder so überzeugt. «Ich habe schon als Jugendlicher gute Erfahrungen damit gemacht. Viel Positives berichteten mir auch Pfarrer, die das Weisse Kreuz im Konfirmandenunterricht engagiert hatten.» Ihn überzeuge zudem der christliche Hintergrund. Von diskriminierenden Ideologien sei ihm nichts bekannt. 

Kein Platz für Ideologie
Was das SKW konkret mit «christlichen Grundwerten» meint, wird nicht schnell deutlich. Ohne jegliche Erläuterung steht der Begriff auf der Website. Einen kleinen Hinweis vermittelt die Zielgruppe «Ehepaare»: Für sie gibt es Workshops zur «Ehevorbereitung» sowie andere Formen von Paararbeit. Auch ist zu lesen, dass der Verein in Schulen und Kirchen unterwegs ist, Einzelberatungen gibt es keine.  

Eine Recherche ergibt, dass das gesamte Team freikirchlich geprägt ist. Geschäftsführer Jonathan Eschmann war Jugendpastor beim International Christian Fellowship (ICF), einer charismatischen Bewegung, die für Enthaltsamkeit vor der Ehe plädiert und auch bezüglich Homosexualität konservativ argumentiert, wobei die Generationen zunehmend gespaltener Meinung sind. 

Eschmann sagt, Ideologien hätten im Arbeitsalltag des SWK keinen Platz. Er bestätigt, dass die Mitarbeitenden evangelikal geprägt sind, versichert aber: «Unsere Sexualpädagogik in den Schulen orientiert sich am Lehrplan 21. Wir unterstützen Menschen, zu einem positiven Umgang mit Sexualität zu finden.» Im Fokus stehe die vertrauensvolle Beziehung. «Unsere Basis sind christliche Werte, dabei orientieren wir uns an Jesus: Er war offen für alle und schuf Brücken, keine Mauern.» 

Unsere Basis sind christliche Werte, dabei orientieren wir uns an Jesus: Er war offen für alle und schuf Brücken, keine Mauern.
Jonathan Eschmann, Geschäftsführer Schweizerisches Weisses Kreuz

Den religiösen Hintergrund betrachtet Eschmann als ein Plus: «So können wir in Schulen und ebenso in Kirchgemeinden arbeiten. Möchte jemand über Glaubensfragen sprechen, dann können wir das bieten.» Mehrmals betont er, dass die Arbeit der Sexualpädagoginnen und -pädagogen, die alle ihr Diplom an staatlichen Ausbildungsstätten machten, keine bestimmte Sexualethik vertreten. «Und deswegen sind wir einigen Freikirchen zu liberal.»  

Auf den Kommentar von Christian Vogt während der Synode angesprochen, dass das SWK mit einer  fragwürdigen Haltung gegenüber homosexuellen Menschen assoziiert werde, sagt Eschmann: «Womöglich ist das Weisse Kreuz Deutschland gemeint, das sexualethische Haltungspapiere abgibt. Das tun wir nicht.» 

Welche Symbolik soll die Kirche vertreten? 
Wie geht es nun weiter? Christian Vogt sagt, dass er mit Synodalen im Gespräch darüber sei, wie man vorgehen wolle. Einerseits habe die reformierte Kirche ein breites Dach, unter dem verschiedene Frömmigkeitsstile Platz haben sollen. «Letztlich muss sich die Synode aber fragen lassen, was für ein Zeichen sie setzt, wenn sie einer Institution Gelder abspricht, die sie selbst mitgegründet hat und dafür eine andere Organisation unterstützt.»  

Mit der Annahme des Antrags ist der Entscheid rechtskräftig. Die Auszahlungen erfolgen bis Mitte Jahr, doch der Kirchenrat hat beschlossen, mit der Auszahlung bis zur Synode im Juni zu warten.