Wogegen kämpfen, wenn die Welt so komplex ist?

Radikalismus

Kantischüler diskutierten an einer Tagung in Aarau über die Frage, warum Menschen sich radikal für etwas einsetzen.

Gibt es Werte, für die ihr öffentlich einsteht?

Silvana: Ich bin Vegetarierin, aber das ist eine persönliche Sache. Auf Fleisch verzichte ich aus Umweltgründen, doch weder verurteile ich Fleischessende, noch probiere ich, sie zum Verzicht zu bewegen. Das Thema Umweltschutz ist für mich allgemein sehr wichtig. Ich versuche, möglichst ressourcenschonend zu leben. Aber auch das Kommuniziere ich nicht offensiv. Ich bin auch in keinem Verein und in keiner Partei.

Noah: Ich finde es schwierig, mich für etwas zu positionieren. Politisch kann ich mich nirgends überzeugt zuordnen,

obwohl ich meist links denke. Ich hätte gerne etwas, für das ich einstehen oder gar kämpfen könnte. Aber ich möchte möglichst viele Perspektiven kennenlernen und schauen, was mir entspricht. Das ist wohl ein langer Prozess. Ist einer eurer Schulkameraden bei einer Bewegung dabei? Green­peace, schwarzer Block, Junge SVP...

Silvana: Nein. Mir kommt aber in den Sinn, dass einige in meinem Umfeld Medikamente meiden. Sie vertrauen der Pharmaindustrie nicht mehr. Viele haben eine Sehnsucht nach mehr Nähe zur Natur. Aber das leben sie nicht in Form einer Bewegung aus.

N

oah: Ein Kollege von mir hat einen sehr radikalen Lebensstil. Er wohnte in einem besetzten Haus, wurde von der Polizei rausgeschmissen, er ist gegen den Kapitalismus und wehrt sich gegen jede Art von Autoritäten. Das fasziniert mich sehr. Was genau fasziniert dich?Noah: Dass er seine Ideen radikal durchzieht und weiss, was er will. Andererseits spüre ich, dass ich nicht so ticke. Er will andere Ansichten nicht verstehen, das entspricht mir nicht. Wer radikal für ein Thema einsteht, schliesst andere Betrachtungsweisen aus, während ich sie einschliesse. Und wer wie mein Kollege wegen seiner Radikalität im Strafregister landet, hat Probleme bei der Stellensuche. Ich möchte mir meine Möglichkeiten nicht verbauen. Silvana: Meinungen auszutauschen und gemeinsam eine Lösung zu finden bringt meistens viel mehr, als starrköpfig die eigene Position durchbringen zu wollen.

Es heisst, dass die heutigen Jugendlichen lieber «chillen» als sich engagieren. In den Sechzigern kämpften sie für mehr Lebensformen, in den Siebzigern für Frauenrechte, in den Achtzigern für alternative Kulturräume, in den Neunzigern formierten sie sich im Techno gegen den Popstarkult. Treibt euch wirklich nichts mehr auf die Strasse?

Noah: Wir sind bestimmt weniger rebellisch als unsere Eltern. Das liegt daran, dass die Probleme viel weiter weg von uns sind. Der Einzelne kann heute ziemlich frei seinen Weg gehen. Dennoch halte ich meine Generation für sehr aufgeschlossen und aktiv.Silvana: Manchmal wünsche ich mir, dass unsere Generation mehr Zusammenhalt hätte und für etwas kämpfen würde, denn es gibt so vieles, das uns Sorgen machen müsste! Unsere Eltern kämpften gegen Autoritäten, gegen ihre Eltern und Lehrer, aber das müssen wir nicht mehr, wir haben viel ähnlichere Werte. Unsere «Feinde» sind Grosskonzerne, globale Unternehmen, aber die sind für uns unerreichbar. N

oah: Genau. Die Tätigkeiten des Saatgutriesen Monsanto machen mich enorm wütend, aber ich fühle mich wie ein Wurm dagegen. Monsanto wurde gerade von Bayer übernommen. Du könntest vor Bayer in Zürich demonstrieren.

Silvana: Dazu fehlt uns eben der Zusammenhalt. Aber es ist halt auch nicht die einzige Firma. So viele machen dreckige Geschäfte, aber die Welt ist so komplex, dass ich nicht weiss, wo anfangen. Im Internet kann ich mich über alles informieren, aber wie weiss ich, was stimmt? Je mehr Infos ich habe desto mehr Themen sehe ich, die mich beschäftigen sollten. Das lähmt mich. N

oah: Ich spüre noch einen anderen Konflikt. Banken machen krumme Geschäfte und sponsern gleichzeitig Jugendanlässe. Das macht es schwierig, sie zu kritisieren. Ach, es ist megakompliziert. Muss man denn für etwas kämpfen? Ihr könntet ja auch einfach eure Freiheit geniessen.

S

ilvana: Ich glaube auch, dass es wichtig ist, sich für etwas zu engagieren. Das Gefühl, der Welt etwas Gutes zu hinterlassen, ist doch ein schönes Gefühl. Dass ich etwas verändern kann. Junge Menschen aus aller Welt schlossen sich dem IS an, obwohl dieser mordet und sie vielleicht auch sterben. Was denkt ihr über dieses radikale Engagement?

Silvana: Ich glaube nicht, dass es ihnen in erster Linie um die Ideologie des IS ging. Sie wollten irgendwo dazugehören, und der IS wusste dieses Bedürfnis zu nutzen. Offenbar zogen viele in den IS, die sich nicht geliebt und gebraucht fühlten und auf der Suche nach Zugehörigkeit waren. Noah: Kürzlich nahm sich ein 16-jähriger Bekannter das Leben. Wenn man viele Probleme hat und das Leben keinen Sinn macht, scheint es mir besser, alles hinter sich zu lassen und wegzugehen anstatt sich umzubringen. Der IS ist schlimm, aber ich kann nachvollziehen, dass Leute sich ihm anschliessen. Silvana: Das Problem ist nicht der IS,

sondern unsere Gesellschaft, in der viele Menschen keinen Lebenssinn finden. Statt den IS zu verteufeln, müssten wir uns eher fragen, warum junge Menschen dorthin wollen, was in ihrem Leben schiefläuft, dass sie sich daheim nicht aufgehoben fühlen. Ihr habt Religion als Ergänzungsfach. Warum?

Silvana: Viele Konflikte sind heutzutage religiös motiviert, das wollte ich besser verstehen können. Ich bin reformiert, aber nicht im kirchlichen Sinn religiös. Ich glaube an eine höhere Macht, aber ob man das Gott nennen kann, weiss ich nicht. Für meinen Glauben brauche ich jedenfalls keine Institution.

Noah: Ich interessiere mich für Geschichte und Philosophie, in der Religion treffen sich die beiden. Ich glaube nicht an eine höhere Macht, aber finde es schon hart, dass es sowas nicht gibt.

Im Juni organisierten die Aargauer Kantonsschulen die interne Tagung «Extrem, radikal, religiös» für Schüler des Ergänzungs- und Freifachs Religion.

Silvana: Der Klimawandel bereitet mir eigentlich grosse Sorgen und ich finde, dass ich mehr tun müsste. Gleichzeitig spüre ich die Folgen des Klimawandels noch nicht in meinem Alltag, es wühlt mich zu wenig auf, als dass ich mich erheben würde. Doch die zwiespältigen Gefühle bleiben trotzdem bestehen. Noah: Ich sehne mich danach, für etwas kämpfen zu können, denn Engagement füllt das Leben mit Sinn. Doch ich kann nicht einfach sagen, «so, für diese Sache kämpfe ich nun». Es muss mich etwas berühren. In den USA protestierten Jugendliche gegen die starke Präsenz von Waffen in der Gesellschaft, aber erst nachdem Mitschüler in einem Amoklauf umkamen.

Silvana Wüthrich und Noah Liechti

Silvana Wüthrich, 1: Die junge Frau aus Hirschthal ist kurz vor der Matur an der Neuen Kantonsschule Aargau. Sie belegt das Ergänzungsfach Religion. Nach der

Matur möchte sie Sozialanthropologie mit Umweltwissenschaften im Nebenfach studieren.



Noah Liechti, 19 Noah besucht wie Silvana das Ergänzungsfach Religion an der Kantonsschule Baden. Nach der Matur wird er die Rekrutenschule absolvieren, reisen und den gestalterischen Vorkurs der ZhdK machen. Er lebt mit seinen Eltern und Geschwistern in Baden.