Der Vorname Judas ist tabu. Eine einzige Person heisst so laut Schweizer Telefonbuch. In Deutschland, wo wie in der Schweiz Vornamen verboten werden können, die Kinder lächerlich machen oder Anstoss erregen, lehnten die Standesämter bisher alle Elternwünsche nach einem kleinen Judas ab. Das Schicksal teilt er mit unzulässigen Vornamen wie Bierstübl, Osama Bin Laden oder Satan.
Judas, suggeriert die Praxis deutscher Standesämter, bedeutet schlechthin Böses. Judas ist jener Jünger, der Jesus an die Tempelbehörden verriet. Er sagte den Hohenpriestern, wann sie ihn festnehmen können, ohne Aufsehen zu erregen. Judas bedeutet Verrat. Und Verrat gehört zum moralisch verwerflichsten, das Menschen einander antun können.
So viel Schwarzweiss macht misstrauisch. Dramatik steigert die Sehnsucht nach Grautönen. Kann denn ein Mensch durch und durch schlecht sein? Ist Verrat so schlimm, dass er durch gar nichts entschuldbar ist? Zweifel sind nicht nur erlaubt, sie scheinen geboten. Zweifel, ob hier bei einem Menschen und einer Handlung mit zu grosser moralischer Keule zugeschlagen wird. Ist Judas in der Rolle des Verräters womöglich nur eine Projektionsfläche? Liegt das Drama gar nicht bei ihm, sondern bei uns?
Verräter gefunden. Wer sich dem Thema Judas und Verrat nähert, starrt in eine Dunstglocke. Was ist geschichtlich fassbar? Was hat sich später als fromme Legende gebildet? Hat Judas den Zeitpunkt zur Gefangennahme verraten, oder den Ort, oder beides? Hat er Jesus mit einem Kuss identifiziert, oder nicht? Ist Geld geflossen, dreissig Silberlinge Belohnung? Ist der Satan in ihn gefahren? Hat Judas sich am Ende erhängt, oder ist er entzwei geborsten und alle seine Eingeweide drangen heraus? Alles steht irgendwo in Evangelien und der Apostelgeschichte, alles klingt dramatisch.
Und von allem wissen die älteren biblischen Zeugnisse, die Paulusbriefe, gar nichts. Kein Wort vom Verrat, nichts von Judas, dem Verräter. «In der Nacht, als Jesus übergeben wurde», heisst es im Korintherbrief. Und das Wort «übergeben» erinnert an die Figur des leidenden Gottesknechts bei Jesaja im Alten Testament, der «sein Leben dem Tod hingegeben hat» (Jesaja 53,12) um der Menschen willen. Es ist eine Anspielung, ein theologisches Zitat: Der Menschensohn geht dahin, «wie geschrieben steht».
Erst eine Generation später, als die ersten Evangelien entstehen, ist aus theologischer Anspielung plötzlich historisches Ereignis geworden, «übergeben» mit «verraten» übersetzt, und Judas, dereinzige Nicht-Galliläer unter den Jüngern, als der Verräter personifiziert.
Aber warum? Warum sollte Judas Jesus verraten haben?
In seinem Buch «Der Fall Judas» (1975) unterscheidet der Altphilologe Walter Jens drei Begründungen. Nach der «psychologischen» Begründung wäre Judas ein geldgieriger Ehrgeizling, wie ihn etwa das Johannesevangelium schildert. Oder der Verrat hatte eine «politische» Begründung: Dann übersetzt man Judas’ Zweitnamen Iskariot als «Sichelmann» und schliesst daraus: Judas sei ein Zelot gewesen, ein Widerstandskämpfer, enttäuscht, dass Jesus keinen Volksaufstand gegen die Römer anzettelte. Die «eschatologische» Begründung schliesslich argumentiert: Judas hätte Jesus mit seinem Verrat dazu bringen wollen, sich als Herrn der Welt zu offenbaren. Was dann schiefging.
Sinn gesucht. Unbefriedigend an allen drei Deutungen ist, dass sie nur Defizite in Judas’ Charakter heraufbeschwören. Verrat aber ist ein Geschehen zwischen zwei Menschen. Zum Verräter gehört der Verratene. Was wäre denn aus Jesus geworden, hätte Judas ihn nicht verraten? Ein alternder Schreiner in Nazareth, der einst als jugendlicher Revoluzzer rebellisch durch Galiläa und Jerusalem zog? Das Christentum entstand, weil Jesus starb und danach den Jüngern erschien.
Kein Kreuzestod ohne Judas’ «Verrat», keine Auferstehung, kein Christentum ohne Judas. «Jesus und Judas: Sie reden gleich. Sie sterben gleich. Sie handeln gleich. Die Jünger fliehen, aber die beiden, von denen jeder das Geheimnis des anderen kennt, küssen und umarmen sich; denn sie wissen: Jesus kann Judas, Judas kann Jesus nicht hindern, Gottes Gebot zu erfüllen.» Soweit Walter Jens.
Wer so deutet, der macht aus dem moralisch abgekanzelten «Verräter» Judas eine starke Figur. Einen Menschen, der sich opfert, damit Gottes Plan in Erfüllung geht. Er gibt sein Leben für ein höheres Ideal. Er übergibt Jesus an die Tempelbehörden, denn nur so kann sich Gott im gekreuzigten Jesus als Gott der Schwachen offenbaren.
Der Verräter ist also wohlmöglich ein Idealist. Ein Mensch, der an Werte glaubt. Einer, der seine Loyalität zu einem anderen Menschen aufkündet, weil er gewichtige Gründe höher bewertet. Der Verräter verrät einen Menschen, damit er seine Ideale nicht verrät.
Gottes Tod am Kreuz stellt noch jeden Menschen vor Verständnisprobleme. Keine andere Religion kennt dieses Gottesbild. Wer jetzt aber einen Verräter braucht, um Gott am Kreuz zu verstehen, der hat wohlmöglich gar nichts verstanden. Da mag einem Judas gerade recht kommen, als Projektionsfläche für die eigene Fassungslosigkeit.