Moralkeule mit sechs Buchstaben

Verrat

Pathetisch, suggestiv und emotional – der Verrat lässt in Politik und Sport niemanden kalt und verspricht viele Klicks. Nur ist der Vorwurf meistens überzogen.

Im Sommer 1976 war die Schweiz in Aufruhr. Die Verhaftung von Brigadier Jean-Louis Jeanmaire löste landesweit Empörung aus, obwohl noch niemand wusste, was ihm genau vorgeworfen wurde. Erst Wochen später lieferte der damalige Justizminister Kurt Furgler in seiner Stellungnahme vor dem Nationalrat die konkreten Vorwürfe: Jeanmaire habe «geheimste Unterlagen und Informationen weitergegeben». Und zwar an die Sowjetunion. Er sei ein mutmasslicher Spion und Landesverräter.

Jetzt explodierten Spekulationen und Emotionen zum «Verratsfall Jeanmaire»: in den Medien und in der breiten Öffentlichkeit. Die Verurteilung Jeanmaires zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Jahren schien den Verdacht zu bestätigen. Dass im Nachhinein der Schaden, den der «Jahrhundertverräter» angeblich anrichtete, als «gering» eingestuft wurde, interessiert bis heute kaum jemanden. Dabei forderten damals einige sogar die Todesstrafe für den «Lump». Man fühlte sich als Volk verraten und wollte Gerechtigkeit und Genugtuung.

Der ultimative Vorwurf. Der Begriff des Verräters ist moralisch stark aufgeladen. Er sollte nur sehr präzis verwendet werden, fordert Francis Cheneval, Professor für politische Philosophie. «Jemand, der ein Staatsgeheimnis preisgibt und sein Land in Gefahr bringt, ist ein Landesverräter. Es ist deshalb unangemessen, wenn in unserer Demokratie Politiker als Verräter beschimpft werden, weil sie sich nicht an das Parteiprogrammhalten, die Partei wechseln oder sich öffentlich zur Einbindung der Schweiz ins internationale Recht bekennen.»

Verrat bedeute, einem Dritten ein exis­tenziell wichtiges Geheimnis weiterzugeben, das Vertrauen zu missbrauchen und die Beziehung zu gefährden. «Verrat ist ein elementarer Vertrauensbruch im menschlichen Beziehungsgeflecht. Etwas vom Schlimmsten, was zwischen Men­schen geschehen kann. Der Verlust von Vertrauen unterhöhlt die Grundlagen ei­ner Beziehung. Ein Verräter wird als nichtmehr beziehungswillig betrachtet.» Es komme immer wieder vor, betont Francis Cheneval, dass der Vorwurf des Verrats als Machtinstrument eingesetzt werde. «Man versucht, einen politischen Gegner mit dem Vorwurf des Verrats so stark zu diskreditieren, dass die Über­zeugung auf­kommt, er verdiene das ihm entgegengebrachte Vertrauen nicht mehr.» Das könne sehr wirkungsvoll sein, sei aber moralisch verwerflich.

Meistens übertrieben. «Die Bezeichnung Verrat ist dann gerechtfertigt, wenn eine Gemeinschaft, der man selber angehört, durch Preisgabe von vertraulichen Information an Dritte zerstört oder stark gefährdet wird», erläutert der Politphilosoph. In der Politik werde der Begriff aber meist überzogen verwendet. Auch in Bezug auf Politiker, die ihre Wahlversprechen nur zum Teil einhalten, oder auf Bürger, die die Institutionen und die Politik stark kritisieren.

«Als Volksvertreter sind Politiker immer in einem Spannungsverhältnis von einzelnen Ansprüchen und allgemeinen Interessen. Sie müssen die Möglichkeit haben, Kompromisse einzugehen.» Bürger hätten das Recht, Institutionen und Gesetze zu kritisieren. Demokratie brauche den Kompromiss und Kritik. «Wer Kompromisse macht und öffentlich sein eigenes Land kritisiert, ist noch lange kein Verräter.» Wenn beides irrtümlich geschehe, könne das schlimme Folgen haben. «Aber Irrtum ist kein Verrat.»

Wählen gibt Vertrauen. Warum jedoch fühlt sich die Wählerschaft oft verraten? Das hänge mit der kleinräumigen, dezentralisierten Politlandschaft zusammen, meint Iwan Rickenbacher, Kommunikationsberater und Politbeobachter. Politiker in der Nähe, die Gemeinderäte und Kantonsräte, meine man kontrollieren zu können. «In der Schweiz haben wir den Anspruch, als Indi­viduum ernst genommen zu werden. Ideal scheint uns, wenn wir auf dem Dorfplatz dem Gemeindepräsidenten unsere Meinung sagen und damit direkten Einfluss auf das politische Geschehen nehmen können.» Je weiter weg die Mächtigen, desto grösser sei das Misstrauen. Die Tradition kleinräumiger Selbstverwaltung schüre den Generalver­dacht, dass die nationalen Volksvertreter nicht tun, was sie versprochen hätten. «Vor allem die Nicht-Wählerschaft fühlt sich verraten. Wer seine demokratischen Möglichkeiten nutzt, hat mehr Vertrauen in die Politik.»

In den Schweizer Medien, sagt Rickenbacher, sei man zurückhaltend, jemanden einen Verräter zu nennen. Und wenn, dann handle es sich meist um einen Tatbestand im Ausland. «Hierzulande wählt man eine vorsichtigere Rhetorik, weil man sich nicht allzu sehr wehtun will. Denn in einem so kleinen Land wie die Schweiz begegnet man sich mindestens zweimal im Leben.»

Das heisst nicht, dass unter Schweizer Politikerinnen und Politikern keine «Verräter» zu finden seien, sagt Rickenbacher. «Man nennt sie dann halt Abweichler, Dissidenten, Abtrünnige oder Geheimnisverletzer. Gemeint ist aber im­mer dasselbe.» Dennoch wird der Vorwurf des Verrats zuweilen explizit. Alt Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf ist ein aktuelles Beispiel. Sie nahm ihre Wahl gegen den Willen der SVP an. Daraufhin wurde gleich ihre ganze Bündner Parteisektion aus der Mutterpartei ausgeschlossen. Seither ist sie für ihre einstigen Parteikollegen gebrandmarkt. Der letzte Tweet, in dem sie als Verräterin bezeichnet wurde, ist wenige Wochen alt. Die ehemalige Finanzministerin hatte sich vor der Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform von der eigenen Vorlage distanziert. Christoph Mör­geli (SVP) warf ihr erneuten Verrat vor.

Politbeobachter Iwan Rickenbacher stellt fest, dass von Landesverrätern, wie das bei alt Brigadier Jean-Louis Jeanmaire in der Zeit des Kalten Krieges noch der Fall war, in der Politik heute nicht mehr gesprochen wird. «Wir begegnen dem Phänomen jedoch neuerdings wieder, wenn es um den Krieg im Netz, den Cyber-War, geht.» Die Gesellschaft fühle sich immer stärker bedroht durch die Ver­letzung von Geheimnissen, die ir­gend­wo elektronisch in der virtuellen Welt liegen. Wie etwa bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen, die im Netz durch die Russen beeinflusst worden seien. Oder wenn die Türkei ihre Exilgemeinschaften online bespitzle und das Handy der deutschen Kanzlerin vom US-Geheimdienst ausgespäht wird. «Das ist die aktuelle Art von Verrat. Davon sind Einzelne und ganze Staaten betroffen.»

Von Wasser und Wein. Werner De Schepper war «Blick»-Chefredaktor und leitet heute die «Schweizer Illustrierte». Im People-Magazin kommen häufig auch Menschen zu Wort, die einen Fehltritt begangen haben. Wie CVP-Parteipräsident Christoph Darbelley, der nach einer Affäre nun Vater eines unehelichen Kindes ist. «Geschichten von Menschen, die gegen ihre eigenen Werte und Prinzipien handeln, sind emotional aufgeladen. Es interessiert die Leute, wenn einer Wasser predigt und Wein trinkt.» Doch gerade weil Verrat kaum je leichtfertig geschehe, müsse man auch im medialen Umgang besonders vorsichtig damit sein. «Als Journalist würde ich das Wort Verrat höchstens in einem Kommentar verwenden, da es per se pathetisch aufgeladen ist.»

Wesentlich interessanter sei, aufzuzeigen, dass hier ein Politiker, der stets für eine strenge Familienpolitik eingestanden sei und das Ideal der klassischen Familie hochgehalten habe, sich nun völlig gegen seine Prinzipien verhalte. «Natürlich erregt das Wort Verrat Aufmerksamkeit und garantiert Klicks. Doch wenn der Begriff zu oft vorkommt in Online-Kommentaren oder sozialen Netzwerken, nützt er sich ab und macht den Verrat zur Bagatelle», sagt De Schepper.

Angst vor Klagen. Tatsächlich: Eine Recherche ergibt, dass das «starke Wort» etwa in Titeln der Boulevardzeitung «Blick» selten zu finden ist. Generell, so Werner De Schepper, sei man damit in den Printmedien deutlich zurückhaltender als online. Man zitiere höchstens mal einen politischen Gegner, der das Wort Verrat in den Mund genommen hat. «Zeitungsjournalisten wissen, dass sie jederzeit mit einer Persönlichkeitsklage rechnen müssen. Dieses Risiko geht man nicht leichtfertig ein.» Eine Ausnahme sei vielleicht der Sportjournalismus.

Vor allem im Fussball wird nicht gegeizt mit Emotionen. Hier geht es um Liebe, Treue, Verrat – den Stoff, aus dem die Dramen sind. Wenn Spieler ihren Verein verlassen, fühlen sich die Fans verraten. Dann wird das Spielerleibchen verbrannt, und der Fanblock entrollt ein Riesenbanner, auf dem der einstige Held «Verräter» genannt wird.

«Es ist wie in einer Fernsehserie», sagt der Autor und langjährige Sportjournalist Richard Reich. «Wenn das Personal wechselt, löst das beim Publikum eine Krise aus.» Im Fussball wie im Fernsehen gelte immer noch der Grundsatz: mein Team, meine Soap. Die Fans wollen sich mit ihren Spielern identifizieren, und wenn zu viele Wechsel stattfinden, dann können sie keine Bindung aufbauen.

Kein Recht auf Hass. Trotz Kommerzialisierung und Globalisierung beschwöre man immer noch das Ideal der Treue. «Es ist kein Zufall, dass man von Fussball­legionären spricht: Wenn einer den Verein wechselt, läuft er über – womöglich zu einem Feind.» Es geht archaisch zu in der Welt des runden Leders. Für Nicht-Fussballfans mag das manchmal etwas lächerlich wirken. Doch zeigt sich darin nicht eine tiefe menschliche Sehnsucht nach Intensität und Identität? «Klar», sagt Reich. «Aber es geht nicht an, dass Fussballfans aus diesem kollektiven Bedürfnis das Recht auf Hohn, Hass oder Ausschreitung ableiten.»

Von der leichtfüssigeren Seite des Verrats spricht Rainer Stadler hingegen. Er ist zuständig für Medienpolitik und Medienberichterstattung bei der «NZZ». In den Medien werde das «Verraten» als simples dramaturgisches Mittel eingesetzt. «Das Wort ist oft nur Lärm für die Medienbühne und dient dazu, boulevardeske Themen aufzuwerten.» Etwa, wenn ein Star letztlich bloss harmlose Details aus seinem Privatleben verrate. «Hier wird der Begriff zur Steigerung der Aufmerksamkeit eingesetzt und hat immer weniger Wirkung, je mehr man ihn verwendet.» Er persönlich brauche das Wort selten, sagt Stadler. «Je geschlossener das Weltbild, desto leichter dürfte Verrat dem Betreffenden über die Lippen gehen. Die Fallhöhe zwischen eigenem Weltbild und der Realität ist dann umso grösser.»

Die Bibel wirkt nach. Und dennoch: Verrat bleibe ein starkes Wort, betont der «NZZ»-Journalist, weil es Abkehr von eigenen oder gemeinsamen Überzeugungen oder die gravierende Verletzung von Vertrauensbeziehungen meint. «Der Verrat von Judas an Christus bringt das beispielhaft und anschaulich zum Ausdruck.» Dass der biblische Hintergrund des Wortes immer noch grosse Bedeutung hat, stellt auch der Kommunikationsberater und Politikbeobachter Iwan Rickenbacher fest. «Seit Judas ist der Begriff religiös stark aufgeladen: der Jude, der unseren Gott verraten hat. Das bildet einen perfekten Nährboden für Antisemitismus. Ein Grund mehr, vorsichtig mit dem Wort umzugehen.»

Und zuletzt wagt Rickenbacher die Prognose. «Wenn die Leute vor dreissig Jahren nach einem berühmten Verräter gefragt worden wären, hätten die meisten wohl Judas genannt. Heute kennen sie die biblische Figur kaum noch.» Ver­räter könnten also auf das Vergessen hoffen. «Und Judas ist nicht der Einzige. Selbst der Teufel muss darum kämpfen, noch in Erinnerung zu bleiben.»