Was unterscheidet den Whistleblower vom Verräter?
Zora Ledergerber: Dass er Missstände aufdecken und Schaden von einer Institution abwenden will. Der Whistleblower geht davon aus, dass seine Meldung der Firma oder dem Staat nützt.
Whistleblower haben immer edle Motive?
Nein. Ich vertrete sogar die Ansicht, dass die Motivation keine Rolle spielen darf. Vielleicht meldet jemand, dass der Chef die Spesenrechnung fälscht, nur weil er ihn nicht mag. Einen geschäftsschädigenden Missstand deckt er trotzdem auf.
Wie fördert Ihre Firma das Whistleblowing?
Wir bieten die Software für ein sicheres Meldesystem. Mitarbeitende setzen anonym Meldungen ab, die entsprechenden Stellen können die Melder kontaktieren. Wir sind die Briefträger: Wir bringen die Nachricht zum Empfänger und zurück.
Sie haben keinen Einfluss darauf, welchen Wahrheitsgehalt die Meldungen haben?
Die Meldungen sind verschlüsselt und für uns nicht einsehbar. Wer eine Nachricht absetzen will, muss zuerst Fragen beantworten, das allein dauert zwanzig Minuten. Wer dem Chef einen Streich spielen will, macht es weniger kompliziert.
Der Whistleblower stellt jemanden an den Pranger, kann sich selbst aber hinter der Anonymität verstecken. Ist das nicht stossend?
Anonymität senkt die Hemmschwelle. Sonst wird kaum jemand Verfehlungen einer Person melden, von der er abhängig ist. Idealerweise wird ein Vertrauensverhältnis aufgebaut und der Melder gibt sich zu erkennen. Ohnehin ist das Meldesystem stets der letzte Schritt. Besser ist, wenn ich ins Büro der Chefin gehen und einen Missstand melden kann.
Verändert sich mit der Software auch automatisch die Unternehmenskultur?
Ganz wichtig ist, wie das Meldesystem den Mitarbeitenden kommuniziert wird: Warum wurde es installiert? Was soll gemeldet werden? Was passiert nach einer Meldung? Wie lautet der Verhaltenscodex, der für alle gilt? Kunden bei dieser Kommunikationsarbeit zu unterstützen, wird für uns immer wichtiger.
Zu Ihren Kunden gehört der europäische Fussballverband Uefa. Nun sind die Sportverbände nicht unbedingt für ihren Willen zur Transparenz bekannt.
Für international agierende Sportverbände ist ein Meldesystem sicher wichtig. Auch die Fifa hat ein System. Aber ob Meldungen seriös nachgegangen wird, darauf haben wir keinen Einfluss.
Ein Meldesystem kann also auch einfach nur ein nettes Label sein und nichts verändern?
Ein Meldesystem ist kein Label. Es wäre auch schwierig, Bedingungen zu formulieren. Viele Unternehmen zögern, ein System zu installieren, weil sie befürchten, mit Meldungen überschwemmt zu werden. Für die Installation Auflagen zu machen, wäre kontraproduktiv.
Sie arbeiten mit global operierenden Firmen zusammen. Welche Unterschiede stellen Sie im internationalen Vergleich fest?
International agierende Firmen nutzen mittlerweile standardmässig Hinweisgebersysteme. Dabei ist wichtig, die lokalen Gesetze und die unterschiedlichen Vorlieben für Meldekanäle zu verstehen. In Indien beispielsweise wird der Telefondienst intensiver genutzt als anderswo. Dabei können Melder telefonisch eine Nachricht hinterlegen und die Antwort abhören. In einigen Ländern stossen wir an Grenzen. China stellt den Verrat von Staatsgeheimnissen ans Ausland unter Strafe. Die Frage ist, was ein Staatsgeheimnis ist, das ist ein dehnbarer Begriff. Weil unser Server in der Schweiz steht, schreckt das viele Chinesen ab.
Und wie meldefreudig sind die Schweizer?
In der Schweiz wird im internationalen Vergleich nur sehr wenig gemeldet.
Weil sich alle an die Regeln halten?
Wohl kaum. Schweizer melden erst, wenn sie absolut sicher sind, dass ein gewichtiger Missstand besteht. Und sie müssen mehrmals darauf hingewiesen werden, dass Meldungen erwünscht sind. In angelsächsischen Ländern ist Whistleblowing positiv besetzt. Unfälle und Katastrophen wären zu verhindern gewesen, hätten sich Mitwisser gemeldet. In der Schweiz wird Whistleblowing noch immer mit Verpetzen assoziiert.
Hilft Whistleblowing gegen Korruption?
Unbedingt. In der Korruptionsbekämpfung ist es entscheidend. Normalerweise gibt es bei einem Verbrechen Täter und Opfer. Bei der Korruption gibt es zwar auch ein Opfer, aber es ist abstrakt: der Staat, die Firma, die Konkurrenz. Die unmittelbar beteiligten Personen profitieren: Der eine bekommt, was er will, der andere kassiert. Korruption kann eigentlich nur dank Mitwissern auffliegen.
Whistleblowing-Geschichten enden oft tragisch. Julia Stepanowa, die das russische Dopingsystem in der Leichtathletik aufgedeckt hat, lebt im Exil. Die Macher von Wikileaks sind längst keine Sympathieträger mehr.
Wikileaks stehe ich kritisch gegenüber. Ich finde nicht, dass es keine Geheimnisse gibt und alles öffentlich gemacht werden muss. Vielmehr bin ich der Meinung, dass es einen Filter braucht. Eine Meldestelle oder eine Redaktion, welche die Informationen prüft und dann auch mit dem eigenen Namen hinsteht, wenn sie veröffentlicht werden. Aber es stimmt: Oft fehlen die positiven Beispiele. Gerade in der Schweiz wurden nur diejenigen Fälle bekannt, in denen die Whistleblower bestraft wurden.
Zu Recht?
Ich finde nicht. Studien zeigen, dass 97 Prozent der Hinweisgeber zuerst intern meldeten. Sie wollten Loyalitätskonflikte vermeiden und gingen nicht sofort an die Öffentlichkeit. Wenn jemand nicht angehört wird und dann den Kontakt mit den Medien sucht, müsste man die Schuld eigentlich beim Unternehmen suchen. In der Schweiz würde ich aber niemandem raten, an die Öffentlichkeit zu gehen. Mit der aktuellen Rechtslage ist völlig unklar, welche Meldungen geschützt sind.
Der Bundesrat präsentierte dem Parlament vor gut einem Jahr zwar eine neue Gesetzesvorlage, muss sie nun aber überarbeiten.
Zum Glück. Die Vorlage wollte, dass jemand einen Missstand nur öffentlich machen darf, nachdem er intern und an die zuständige Behörde gemeldet hat. Mehr noch: Er muss sich noch bei der Behörde melden und kann nur an die Öffentlichkeit, wenn er keine Antwort erhält. Wenn die Behörde das Verfahren verschleppt oder sich als inkompetent erweist, bleibt der Gang an die Medien verbaut. Das ist stossend. Es geht nicht um den Inhalt der Meldung und das öffentliche Interesse, sondern um Verfahrensfragen.
Und Sie denken, der Bundesrat bringt beim nächsten Mal eine bessere Vorlage?
Ich hoffe es. Wir warten jetzt schon bald fünfzehn Jahre auf ein neues Gesetz. Die Entwürfe wurden mit der Zeit besser.
Aber ändert ein neues Gesetz auch die Mentalität der vorsichtigen Schweizer?
Das Gesetz wäre ein wichtiges Signal. Es gibt auch positive Beispiele in der Schweiz. Das Bundespersonal ist verpflichtet, Missstände zu melden. Das ist vorbildlich. Beim Bund gibt es auch genügend unabhängige Stellen wie die Eidgenössische Finanzkontrolle, an die sich Mitarbeitende wenden können. Oder die Firma Roche veröffentlicht im Jahresbericht die Anzahl Mitarbeiter, die entlassen wurden, weil ihnen dank interner Meldungen Verstösse gegen den Verhaltenscodex nachgewiesen wurden.
Weltweit geht die Tendenz nicht unbedingt Richtung Transparenz. China haben Sie erwähnt. Auch die Türkei oder Russland entwickeln sich zu geschlossenen Systemen.
Zugleich bleibt im Zeitalter der Handykameras und sozialen Medien nichts ungesehen. Informationen zu kontrollieren, wird schwieriger. Trotz Rückschlägen sehe ich eine positive Entwicklung. Vielerorts werden Gesetze auf den Weg gebracht, die das Melden von Missständen fördern.