Schwerpunkt 21. September 2021, von Anouk Holthuizen

Einsamkeit macht krank und kommt oft zu kurz

Einsamkeit

Ein «reformiert.»-Autor macht auf Eremit und schreibt ein Tagebuch der Einsamkeit – und ein Psychiater und Theologe sagt, dass sie zum Schutz vor allem akzeptiert werden sollte.

Über Einsamkeit wurde während des Lockdowns viel berichtet. Von den negativen gesundheitlichen Folgen, die durch Studien bestätigt werden, und der zunehmenden Anzahl Menschen, die unter ihr lei­den. Das Phänomen kennt keine Grenzen, so haben Grossbritannien und Japan Ministerien für Ein­samkeit eingeführt. Die staatlichen Stellen sollen Projekte koordi­nieren und lancieren, um Menschen aus der Isolation zu holen.

Als Grund für den Trend gilt die individualistischer werdende Ge­sellschaft, in der familiäre Bande lose geworden sind und das Verwirklichen des Selbst einerseits von Konventionen befreit, anderer-seits auch zu einer Bezugslosigkeit zur Gesellschaft und zum «common sense» geführt hat.

Gleichzeitig lebt eine ganze Literatur- und Tourismusindustrie von der Sehnsucht nach Rückzug. Menschen kaufen sich mit teuren Retreats abgeschirmte Zeit für sich allein. Im Gegensatz zur Einsamkeit als ungeplantes, ungewolltes Gefühl gilt Alleinsein, wenn es zeitlich beschränkt ist, als gesund. Tatsächlich braucht der Mensch Phasen des Alleinseins, um seinen inneren Kompass zu finden – in einer Zeit mit einem zwanghaften Aussenbezug, wie dies etwa die sozialen Medien demonstrieren, sowieso.

Einsamkeit ist jedoch kein Empfinden der Moderne, sie gehört zum Menschsein. «Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist», heisst es bereits in der Bibel (1 Mose 2,18). In vie­len Psalmen im Alten Testament wird das Alleinsein beklagt.

Der Mensch braucht Resonanz, um zu existieren. Aber eben auch die Stille: Die Wüste steht in der biblischen Überlieferung immer wieder für den Neuanfang und die Be­sinnung auf Gott. Jesus suchte in der Wüste phasenweise bewusst die Einsamkeit.

In unserem Schwerpunkt kommen beide Seiten der Einsamkeit zur Sprache. Der Selbstversuch von «reformiert.»-Redaktor Christian Kaiser in einer Kapelle auf der Alp Flix zeich­net das Leben der Eremiten nach. Im Interview berichtet Michael Pfaff, Psychiater in einer Burn-out-Klinik, über die krankhaften Seiten von zu viel und zu wenig Alleinsein.