Über Einsamkeit wurde während des Lockdowns viel berichtet. Von den negativen gesundheitlichen Folgen, die durch Studien bestätigt werden, und der zunehmenden Anzahl Menschen, die unter ihr leiden. Das Phänomen kennt keine Grenzen, so haben Grossbritannien und Japan Ministerien für Einsamkeit eingeführt. Die staatlichen Stellen sollen Projekte koordinieren und lancieren, um Menschen aus der Isolation zu holen.
Als Grund für den Trend gilt die individualistischer werdende Gesellschaft, in der familiäre Bande lose geworden sind und das Verwirklichen des Selbst einerseits von Konventionen befreit, anderer-seits auch zu einer Bezugslosigkeit zur Gesellschaft und zum «common sense» geführt hat.
Gleichzeitig lebt eine ganze Literatur- und Tourismusindustrie von der Sehnsucht nach Rückzug. Menschen kaufen sich mit teuren Retreats abgeschirmte Zeit für sich allein. Im Gegensatz zur Einsamkeit als ungeplantes, ungewolltes Gefühl gilt Alleinsein, wenn es zeitlich beschränkt ist, als gesund. Tatsächlich braucht der Mensch Phasen des Alleinseins, um seinen inneren Kompass zu finden – in einer Zeit mit einem zwanghaften Aussenbezug, wie dies etwa die sozialen Medien demonstrieren, sowieso.
Einsamkeit ist jedoch kein Empfinden der Moderne, sie gehört zum Menschsein. «Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist», heisst es bereits in der Bibel (1 Mose 2,18). In vielen Psalmen im Alten Testament wird das Alleinsein beklagt.
Der Mensch braucht Resonanz, um zu existieren. Aber eben auch die Stille: Die Wüste steht in der biblischen Überlieferung immer wieder für den Neuanfang und die Besinnung auf Gott. Jesus suchte in der Wüste phasenweise bewusst die Einsamkeit.
In unserem Schwerpunkt kommen beide Seiten der Einsamkeit zur Sprache. Der Selbstversuch von «reformiert.»-Redaktor Christian Kaiser in einer Kapelle auf der Alp Flix zeichnet das Leben der Eremiten nach. Im Interview berichtet Michael Pfaff, Psychiater in einer Burn-out-Klinik, über die krankhaften Seiten von zu viel und zu wenig Alleinsein.