Schwerpunkt 21. September 2021, von Constanze Broelemann, Rita Gianelli

«Selbstliebe kommt vor Nächstenliebe»

Einsamkeit

Die Einsamkeit gehört zum Menschen, sagt Psy­chiater und Theologe Michael Pfaff. Wer sie als Teil des Lebens akzep­­tie­re, könne aus der krank machenden Einsamkeit herausfinden.

Fühlen Sie sich manchmal einsam?

Michael Pfaff: Ich habe mich schon oft einsam gefühlt in meinem Leben. Jeden Montag erlebe ich Einsamkeit, wenn ich meine Partnerin, die im Kanton Zürich lebt, verlassen muss. Auch als Austauschschüler in den USA erlebte ich Einsamkeit oder als Student zu Beginn des Studiums an der Universität. Es war eine soziale Einsamkeit, das Gefühl, zu keiner Gruppe zu gehören, nicht zu wissen, wohin mein Weg mich führt. Doch die schmerzhaftesten Einsamkeitsgefühle habe ich in mei­nen tiefsten Liebesbeziehungen. Das ist bis heute so geblieben.

Spürten Sie diese schmerzhaften Ein­samkeitsgefühle körperlich?

Ja. Wenn sich Angst bis zur Panik hochschaukelte, verlor ich auch Gewicht. Ich spürte eine Leere, ­eine an­haltende Trauer, die zu Appetitlosigkeit und einem dauerhaften Druck auf der Brust führte.

Können Sie verschiedene Arten von Einsamkeit unterscheiden?

Einsamkeit ist sehr vielschichtig. Es gibt die selbst gewählte Einsamkeit der Nonkonformisten nach einem Berufsausstieg. Ganz anders ist die emotionale Einsamkeit des Menschen. Nicht wenige Suizide von Jugendlichen passieren genau in dieser Situation. Trotz vieler Kontakte haben die Betroffenen das Gefühl, nicht verstanden zu werden, sich ver­­stellen zu müssen. Ausserdem lei­den Menschen unter der aufgezwun­genen Einsamkeit, ich denke etwa an Straf­gefangene oder psychisch Kranke. Aus der Sicht des Psychiaters kann ich sagen, dass viele psychisch Kranke einsam sind. Dies be­trifft insbesondere Menschen mit chronischen Krankheitsverläufen.

Inwiefern kann auch Stress in die Einsamkeit führen?

Die Veränderung des Lebensgefühls unter dauerhaftem Stress nennen wir heute Burn-out. Nicht alle Menschen mit einem Burn-out sind krank, aber alle sind sie krankheits­gefährdet, weil sie auf die Dauer mehr Energie verbrauchen, als sie sich wieder zuführen. Das Burn-out endet oft in Depression, Angst- und Schmerzerkrankungen und in psychosomatischem Leiden. Betroffene Menschen erleben sich in solchen Krankheitszuständen oft von der Gesellschaft isoliert. Ich wurde Psychiater, weil ich den Eindruck hatte, dass selbst zahlreiche Leute mit orthopädischen oder internistischen Er­kran­­kungen nicht wirklich wahr­ge­nom­men oder geheilt werden. Mir liegt daran, den Menschen als ganze Person zu sehen.

Was können Betroffene gegen ihre Einsamkeit tun?

Die Befreiung aus der Einsamkeit, die als eine Plage wahrgenommen wird, ist, sie zu akzeptieren. Die Ak­zeptanz, dass sie zu mir gehört und dass sie ein wandelbarer, wechselbarer Zustand ist, ist ein Anfang, mir meiner Gefühle bewusst zu werden, sie als meinen Lebenskompass zu betrachten. Das heisst, ich muss mich fragen, was diese Situa­tion, in der ich stecke, nun bedeutet: Ist die Einsamkeit im Moment gut für mich, steckt darin ein Weg, den ich gehen soll, oder fühle ich mich isoliert und hilflos, benötige ich professionelle Unterstützung?

So gerät die Kirche selbst in eine Einsamkeit, weil sie mit dem, was sie an­bietet, nirgendwo Wurzeln schlagen kann.

Und was folgt danach?

Ein zweiter Schritt wäre, zu entscheiden, was ich verändern kann. Zum Beispiel in den Chor einzutreten, weil ich gern singe und mich in der Gemeinschaft Gleichgesinnter wohlfühle. Ändert sich nichts und entsteht eine dauerhafte Depression oder Schmerzerkrankung, ist ein Coaching oder eine Therapie hilf­reich. Dieses selektive Handeln ist entscheidend.

Warum?

Es hilft mir, meine Bedürftigkeit und auch meine Grenzen richtig einzuschätzen und mir keine zu grossen, unerreichbaren Ziele zu stecken. Mein Selbsterleben in einer Situation ist entscheidend, nicht das Bild nach aussen, das ich mit meinem Ver­halten erzeugen will. Deshalb darf unser Fühlen einen wesentlichen Anteil haben in unseren Entscheidungsprozessen, die natürlich auch rational sind und auf Erfahrungen gründen. Selbstliebe kommt vor Nächstenliebe. Fürsorge für andere setzt die gut etablierte Fürsorge für sich selbst voraus. Selbstfürsorge hat viel damit zu tun, seine emotionalen Reaktionen in der widerständigen Welt wahrzunehmen und zu steuern.

Kommt die Selbstfürsorge heute zunehmend zu kurz?

Die meisten Menschen haben eine Art manipulativen Lebensstil kennengelernt. Sie geben sich alle Mühe und wollen damit beim Gegenüber jenes Verhalten auslösen, das sie sich wünschen. Kurz gesagt, sie wollen gefallen. Dies führt am Ende oft zum resignierten Rückzug. Deshalb ist einer unserer Ansätze in der Klinik, die Menschen mental von diesen eingeprägten Selbststeu­e­rungs­prozessen zu befreien.

Einsamkeitsgefühle gehen oft mit Versagensängsten einher. Hat versagt, wer sich einsam fühlt?

Nein. Einsamkeit ist ein fester Bestandteil der menschlichen Würde. Sie ist ein Teil unserer Existenz.

Es gibt Menschen, die bewusst die Einsamkeit wählen.

Wir brauchen Raum, um uns selbst zu spüren, uns zu definieren und auf uns selbst beziehen zu können. Das ist ein wesentlicher Ansatz der Behandlung dieser Klinik. Die Men­schen aus ihrem fast zwanghaften Aussenbezug wieder in eine nach innen gewandte Haltung zu führen, wirklich den eigenen Kompass fürs Leben zu finden, steht am Anfang des Wegs zur Heilung.

Sie sind auch Theologe. Hilft Religion gegen die Einsamkeit?

Religion lehrt uns, die Einsamkeitsfähigkeit genauso wie die Liebesfähigkeit in unserer Existenz anzunehmen. Die Einsamkeit führt uns in den Dialog mit Gott und kann so die Geborgenheit in der Beziehung zur Transzendenz spürbar machen. Und als Theologe sage ich ganz klar: Ja, auch die Kirche kann hilfreich sein. Dazu müsste sie aber die Erlösungsbotschaft stärker integrieren und unter die Menschen bringen.

Michael Pfaff, 49

Nach dem Theologie- und Medizin­studium in Tübingen und Berlin arbeitete Michael Pfaff unter der Leitung von Daniel Hell an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich. Mit ihm und Burn-out-Pionier Toni Brühlmann entwickelte er Konzepte zur Behandlung von Stresserkrankungen. Seit 2017 ist der dreifache Vater ärztlicher Direktor und Chefarzt der Clinica Holistica Engiadina in Susch.

Können Sie das erläutern?

Ich war immer schon ein Vertreter des Abendmahls als ein Sättigungsmahl. Ich bin überzeugt, dass Einsamkeit dadurch aufgehoben wird, dass wir Menschen uns mit einer gemeinsamen Vision in einem Geist wiederfinden und danach handeln. Nicht uns selbst feiern, sondern die Welt bearbeiten. Kirche kann nicht ewig belehrend in Erscheinung tre­ten, son­dern durch spürbare, lebens­fördernde Präsenz. Unser menschlicher Kompass ist in unserer Brust, dort müssen wir die Menschen bewegen. Ich glaube, unsere Kirche ist erstarrt. Sie erreicht die Menschen nicht mehr in ihrer Lebenswelt. So gerät auch die Kirche immer mehr in eine Einsamkeit, weil sie mit dem, was sie anbietet, nirgendwo Wurzeln schlagen kann. 

Einsamkeit ist inzwischen ein Politikum. Einige Länder wie Gross­britannien oder Japan haben Einsamkeitsministerien eingeführt.

Diese Ministerien können helfen, aber ich fürchte, dass es sich dabei auch um einen politischen Alibi-Ak­tionismus handeln könnte. Wir sind als Gesellschaft gefordert, wenn es um Einsamkeit geht. Viele gut gemeinte Massnahmen zur Schaffung von Sozialkontakten können vereinsamte Menschen nur noch stärker unter Druck setzen. Wir müssen früh beginnen, die psychische Gesundheit zu thematisieren, bereits in der Volksschule. Und wir soll­ten den Jugendlichen vermitteln, dass Einsamkeit wichtig ist. In solchen Phasen können sie wichtige Erfahrungen machen.

Hat die Angst vor dem Tod auch etwas mit der Angst vor der Einsamkeit zu tun?

Für mich ist die Furcht vor Einsamkeit der genuine Inhalt der Todesangst. Tod ist etwas, was die Beziehungen, die wir kennen, kappt. Die sterblichkeitsbedingte Einsamkeit ist auch ein Grund, weshalb ich betone, dass wir uns im Leben bereits eine Einsamkeitsfähigkeit anlegen müssen, um in Lebendigkeit leben zu können. Sonst verlieren wir uns, enden paradoxerweise in Einsamkeit und Isolation. Das heisst, wenn wir die Grundbedingungen unseres Lebens nicht anerkennen, besteht das Risiko, dass wir eine übermässige kämpferische Haltung einnehmen. Weil wir meinen, nur durch selbst verdiente Momente des Glücks einer tieferen Wahrheit näher zu kommen. Kampf bedeutet jedoch Distanz zum Nächsten und verhindert ein Gefühl von Geborgenheit in dieser Welt.