Je näher ich meiner Kapelle komme, desto besser fühle ich mich. Angenehm
müde, die Schwermut vom Mittag ist wie weggeblasen. Ich freue mich auf
das Highlight des Tages: Wie immer läute ich zum Abschluss um neun die
Glocke mit dem alten Hanfseil, zünde acht Kerzen an und begehe eine
kleine Feier für mich allein. Spiele die Hirtenflöte oder singe. Die
Akustik ist grandios. Zuvorderst das goldumrandete Altarbild: Die
Heiligen Placidus und Blasius schauen zu Maria auf, welche Engel
umkreisen.
Der Heilige Rochus mit
Hirtenstab und Schäferhund wacht als geschnitzte Holzfigur auf der
linken Seite. Das Kirchlein wächst mir ans Herz. Ich beschliesse den Tag mit einer selbst kreierten Losung: «Das Himmelreich gleicht einem
Hausherrn, der spät am Abend erfüllt Feierabend macht und seine Kapelle
verschliesst.»
Freitag, 30. Juli 2021
Der Falke kam heute dreimal, bis ich endlich aufstand. Ich höre Stimmen rund ums Kirchlein. Zeit, aufzuschliessen. Kapellen sind für alle da. Heute ist ideales
Wanderwetter, und erst jetzt wird deutlich, dass meine Einsiedelei an
einer Wanderroute liegt. Menschen kommen und erzählen mir ungefragt
ihre Geschichten. Will der Einsiedler weder drinnen verschmoren noch die alte Sitzbank vor der Kapelle gegen unbestellte Gesellschaft
verteidigen, muss er aufbrechen.
Am Abend sitze ich vor der Kapelle. Ein Gewitter kracht ennet dem Tal. Ich
höre dem Wind zu, wie er hoch in den Grashalmen pfeift und dumpf im
Gebüsch der Wacholdern rauscht. Sehe, wie er die Halme im Tremolo
erzittern lässt, dann für einen langen Takt ganz flach legt. Das Brausen auf meinem Gang hat mich tüchtig durchgeblasen, ich weiss wieder, was
mich ausmacht.
Vor einer halben Stunde
klaubte ich einem Shetlandpony den halben Wald aus der fettigen Mähne:
Lärchenästchen, Flechten, Wacholdernadeln, Heidelbeerblättchen. So geht
Leben: Es ist eine einzige Lektion in Achtsamkeit. Ich bin sein (mal
gelehriger, mal grottenschlechter) Schüler. Ich bin glücklich!