Wo bleibt die Aufarbeitung?

Pandemie

Die Debatten der Corona-Pandemie sind einfach versandet. Laut der Versöhnungsforscherin Christine Schliesser wäre eine Aufarbeitung der Ereignisse aber enorm wichtig.  

Sie sind Spezialistin für Friedens- und Versöhnungsforschung. Wie erlebten Sie die gesellschaftliche Debatte während der Pandemie?  
Ich beobachtete mit Besorgnis, wie der Ton immer rauer wurde. Selbst in unserem Dorf wurden im Vorfeld der Abstimmung zur Änderung des Covid-19-Gesetzes sowohl die Plakate der Befürworter als auch jene der Gegner mit teilweise wüsten Beschimpfungen versehen.  

Sie haben sich in Ihrer Forschungsarbeit mit Spaltungen in der Gesellschaft auseinandergesetzt, unter anderem in Ruanda und Südafrika. Was sind typische Phänomene? 
Ich bin vorsichtig, unterschiedliche soziale und geschichtliche Kontexte vorschnell miteinander zu vergleichen – dort Konflikte im Kontext eines Völkermords beziehungsweise der Apartheid, hier der Umgang mit der Pandemie. Und doch gibt es einige typische Merkmale gesellschaftlicher Spaltungen: der Umgang mit Stereotypen, die Rolle von Identitäten, von Selbst- und Fremdwahrnehmung, auch die Stigmatisierung der «Gegner» und die Erosion einer gemeinsamen Gesprächsbasis. 

Statt einen Dialog zu führen, warfen sich die Konfliktparteien Intoleranz vor, wie das auch in den Erzählungen von Francesco B. und Daniel R. zum Ausdruck kommt.  
Der Vorwurf der Intoleranz stand schnell im Raum. Diese Form von Beschwerde drückt im Grunde den Wunsch nach Wahrheit aus, was ja an sich ein positives Bedürfnis ist. Allerdings besteht jeweils die Gefahr, dass man die eigene Meinung, die eigene Wahrheit absolut setzt und letztlich das Interesse an anderen Meinungen verliert. Auf diese Weise kann das eigentlich Positive ins Negative rutschen. Gegenseitig schlägt man sich dann den Vorwurf der Intoleranz um die Ohren.  

Wie lässt sich das verhindern?  
Man müsste die verschiedenen Herangehensweisen an die Streitfragen anschauen und gemeinsam überlegen: Wo beissen sich unsere Überzeugungen und wo hingegen nicht? «Tolerare» heisst ja «mittragen», also auch solche Meinungen, von denen ich überzeugt bin, dass sie nicht richtig sind. Damit der Wunsch nach Toleranz erfüllt wird, müssen wir Ebenen gestalten, auf denen wir wieder miteinander ins Gespräch kommen können. Und vielleicht sind das erst mal Ebenen, wo man das Thema Corona weglässt. Das Leben besteht ja nicht nur aus einem Konfliktthema. Da kann es vorerst helfen, sich auf Themen zu konzentrieren, die einen miteinander verbinden. 

Daniel schlug seiner Schwester vor, das Thema Impfen und Masken auszusparen, aber sie hält bis heute daran fest, dass er blind alles mitmache. Was könnte er tun? 
Sind die Fronten verhärtet, aber beide Parteien haben trotzdem das Bedürfnis, wieder miteinander in eine Beziehung treten zu können, so wäre es eine Möglichkeit, eine dritte Person hinzuzuziehen. Dabei ist es weniger wichtig, dass diese Person neutral ist, sondern dass sie allparteilich ist. Diese Rolle könnte etwa ein Bekannter übernehmen oder auch eine externe Mediatorin.  

Wie sieht es heute auf der gesellschaftlichen Ebene aus? Unser Eindruck ist: Corona und unser Umgang damit sind mit Ausbruch des Ukraine-Kriegs versandet, doch die Gräben bestehen vielerorts weiter.  
Ich sehe das ähnlich. Eine Krise hat die nächste abgelöst, aber die erste ist noch nicht vollständig bewältigt. Das ist nicht unproblematisch. Es ist wichtig, innezuhalten und zu reflektieren: Was ist seit Ausbruch der Pandemie eigentlich geschehen, und wie haben wir das gemeistert? Wo musste man aus der Notwendigkeit heraus handeln, bei welchen Massnahmen ist man aber vielleicht zu weit gegangen? Zur Kritik gehört auch die Selbstkritik.  

Der Vorwurf der Intoleranz stand schnell im Raum. Diese Form von Beschwerde drückt im Grunde den Wunsch nach Wahrheit aus, was ja an sich ein positives Bedürfnis ist.
Christine Schliesser

Sowohl Francesco als auch Daniel erzählen, wie das Verhalten des Freundes respektive der Schwester sie verletzte. Die Art, wie diskutiert wurde, scheint mindestens so starke Folgen gehabt zu haben wie der Inhalt der Debatte.  
Das Wie der Debatte sollte uns ebenso zu denken geben wie das Was. Der Ton wurde zuweilen sehr scharf und gehässig. Ich bin deshalb überzeugt, dass wir uns neben der inhaltlichen Reflexion auch der Art und Weise widmen sollten, wie wir in dieser Krise miteinander kommuniziert haben, persönlich wie auch gesamtgesellschaftlich.  

Und wo und wie müsste diese Reflexion denn stattfinden? 
Hier liessen sich Anleihen an Wahrheits- und Versöhnungsprozesse aus anderen Kontexten machen. Es geht einerseits um Wahrheit: Was ist passiert? Welche Massnahmen wurden ergriffen? Wo gab es Fehleinschätzungen? Zudem geht es um Versöhnung: Wie finden wir einen gemeinsamen Weg vorwärts? Wo müssen wir Fehler eingestehen? Und welche Kompetenzen benötigen wir, damit wir mit unterschiedlichen Meinungen konstruktiv umgehen können? Neben technischen Kompetenzen, die wir im Alltag brauchen, treten hier die Lebenskompetenzen, die sogenannten «life skills», ins Spiel.  

Welchen Beitrag kann die Kirche dazu leisten?  
Ich stiess kürzlich auf einen Leitfaden für Kirchgemeinden, die im Nachgang an die Pandemie Versöhnungsarbeit leisten wollen. Er wurde im Auftrag der Schweizerischen Evangelischen Allianz erarbeitet. Der Riss ging auch durch zahlreiche Kirchgemeinden. Versöhnung ist zentraler Bestandteil des christlichen Ethos, und viele Kirchgemeinden sind das Thema offensiv und konstruktiv angegangen. Kirchgemeinden könnten als «Leuchttürme der Versöhnung» auch nach aussen strahlen. Denn an Streitthemen wird es unserer Gesellschaft nicht fehlen.   

Reicht der Dialog? 
Nicht immer findet man via Argumente und Dialog zusammen, wie die Beispiele von Francesco und Daniel zeigen. Wichtig ist auch die sogenannte Diapraxis, also miteinander etwas gestalten. In Ruanda lernte ich ein beeindruckendes Beispiel der christlichen Organisation Carsa kennen: Ein Überlebender des Genozids und ein Täter erhalten eine Kuh, die sie gemeinsam pflegen. Mit der Zeit können hier Beziehungen wieder neu wachsen. Auf den Streit wegen der Pandemie angewendet: Francesco könnte Luigi etwa einladen, ihm im Garten helfen oder eine gemeinsame Velotour planen.  

Gemeinsame Aktivitäten können zwar eine Beziehung wiederherstellen, reichen sie jedoch auch aus für eine echte Versöhnung? Versöhnung geschieht tatsächlich nicht von heute auf morgen, sondern braucht Zeit und auch Raum, sie ist kein Automatismus im Sinn von «Die Zeit heilt alle Wunden». Vergessen ist nicht gleichzusetzen mit vergeben. Sich versöhnen zu wollen, ist ein Willensakt, man begibt sich auf einen anstrengenden Weg. Diesbezüglich erlebte ich in Ruanda und Südafrika, welche Ressourcen die Religion, vor allem der christliche Glaube, in Versöhnungsprozessen spielt: von der Gemeinschaft, die einen trägt, über Rituale, die Halt geben, bis hin zu Konzepten wie Versöhnung, Gnade, Neuanfang. Christophe Mbonyingabo, der sich in Ruanda für Versöhnung einsetzt, sagte einmal: «Wenn Versöhnung in Ruanda möglich ist, dann ist sie überall möglich.» 

Ein Argument der Massnahmen-kritiker war, man heble die Demokratie aus. War sie in Gefahr? 
Die Grundrechte sind die Marker einer Demokratie. In der akuten Phase der Pandemie wurden tatsächlich einige Grundrechte eingeschränkt wie das Versammlungsrecht und das Demonstrationsrecht. Grundrechte sind jedoch im Notfall prinzipiell befristet einschränkbar. Das war nicht Willkür, denn es gab einen spe-zifischen Grund. Die Demokratie in der Schweiz ist stabil. Ich sah keine Gefahr in diesen Massnahmen, auch wenn man im Rückblick sagen kann – und muss! –, dass die eine oder andere über das Ziel hinausschoss.

Christine Schliesser, 45

Privatdozentin für Systematische Theologie an der Universität Zürich, Studienleiterin am ökumenischen Zentrum für Glaube und Gesellschaft an der Universität Freiburg. Research Fellow an der Universität Stellenbosch (Südafrika) in Studies in Historical Trauma and Transformation. Schwerpunkt: Friedens- und Versöhnungsforschung im post-genozidalen Ruanda, Südafrika nach der Apartheid.