«Seine Haltung machte mich fassungslos»

Streit

40 Jahre lang waren sie die besten Freunde, dann kam die Pandemie. Francesco B. wartet bis heute auf ein kleines Zeichen des Verständnisses.

Als die Pandemie losging, machte ich mir keine Sorgen. Erst im Lockdown beschlich mich ein Gefühl, das sich später mit der Einführung der Impfung verstärkte: Man teilte die Leute immer stärker in zwei Gruppen ein – in die ‹Guten›, die alle Massnahmen akzeptierten, und in die ‹Bösen›, die es lockerer sahen oder gegen Massnahmen waren.  

Ich bin nicht generell ein Impfgegner, aber diese Impfung betrachtete ich skeptisch. Rasch erhielt ein Stoff eine Notfallzulassung, man versprach Immunität und die Verhinderung der Ansteckung, dabei wusste man noch nicht alles. Als sich mein Jahrgang impfen lassen durfte, schrieb mir mein bester Freund Luigi* eine SMS: ‹Bist du schon geimpft?›. Das ärgerte mich. Warum fragte er bei so einem wichtigen Thema nicht zuerst, was ich davon halte? Wir diskutierten aber nicht gross darüber. 

Heftiger Streit am Konzert
Erst drei Tage nach der Einführung der Zertifikatspflicht im Oktober 2021 gerieten wir heftig aneinander. Wir besuchten ein Konzert. Luigi fand, die Schweiz müsse eine Impfpflicht für alle einführen. Ich war schockiert. Bereits die Zertifikatspflicht hatte mich sehr aufgewühlt. Auf extrem wackeligen Argumenten wurden einem Teil der Menschen Grundrechte entzogen.  

Gegenüber totalitären Massnahmen reagiere ich sehr sensibel. Mein Grossvater und Vater litten in Italien unter dem Faschismus, unter der Einteilung in ‹wir› und ‹sie›. Nun erlebte ich selbst, dass Menschen ausgeschlossen wurden. Es gab keine Dialogbereitschaft mehr, auf beiden Seiten! Es galt nur noch: Machst du mit oder nicht? Luigis Haltung machte mich fassungslos. Die Bar verliessen wir getrennt. 

Ich verurteile nie­manden, der sich impfen liess. Luigi aber zeigte null Verständnis für mich.
Francesco B.

Auch mit anderen Leuten führte ich Diskussionen, doch wir konnten uns immer finden. Ich verurteile niemanden, der sich impfen liess, jeder sollte das selbst entscheiden. Nur Luigi zeigte null Verständnis. Er sagte, wegen Leuten wie mir würde die Pandemie so lange dauern. Das verletzte mich zutiefst.  

Zwei Monate lang hatten wir keinen Kontakt, dann schrieb ich ihm zu Weihnachten eine Karte. Ich wollte ein Zeichen senden, schrieb, dass ich zurzeit weniger an den Jesus in der Krippe denke, sondern vielmehr an den Revolutionär, der gegen jegliche Zwänge vorging. Das war eine Anspielung, aber auch meine Suche nach Verständnis. Er schickte mir daraufhin auch eine Karte, wünschte mir aber bloss gute Gesundheit. Seither haben wir nur zweimal telefoniert. Beim letzten Mal sagte ich ihm, ich bräuchte ein gewisses Verständnis von ihm, um Freunde zu bleiben. Verständnis macht doch Freundschaft aus! Aber Luigi will nicht über das reden, was uns entzweit hat.  

Ich vermisse ihn. Wir waren über 40 Jahre lang beste Freunde, haben viele gemeinsame Themen, den gleichen Beruf. Ich tausche mich gern mit ihm aus. Und trotzdem kann ich nicht darüber hinwegblicken. Nach der zweiten Impfung liess er sich nicht mehr impfen, offenbar hinterfragt auch er den Nutzen. Er könnte doch sagen: ‹Hey, ich kann deine Haltung heute besser verstehen.› Das würde mir reichen.

Nötige Auseinandersetzung 
Den Schritt aufeinander zu hat die Gesellschaft bis heute nicht gemacht. Doch wir müssten reflektieren, was passierte, auch ob die Massnahmen gerechtfertigt waren. Das wäre so wichtig, um sensibel für gefährliche Tendenzen zu bleiben. Das bedrückt mich. Ich brauche diese Aufarbeitung, um wieder Vertrauen in die Politik zu haben.» 

(*Namen geändert)