Schwerpunkt 21. Februar 2023, von Sandra Hohendahl-Tesch

«Lange vermisste ich sie, doch diese Gefühl verblasst.»

Streit

Als Bruder und Schwester standen sie sich 49 Jahre sehr nahe. Die Pandemie hat die beiden entzweit. Keiner wagte bisher den ersten Schritt. 

«Ich fand es genial, als die Impfung im Januar 2021 kam. Noch nie hatten so viele Institutionen und Personen so intensiv an einem Impfstoff geforscht. Für mich war klar, dass ich der Wissenschaft vertraue und mich impfen lassen würde. Meine Haltung war beeinflusst durch Gespräche mit meiner Hausärztin und ihrem Ehemann, einem Mikrobiologen. Beide sind Freunde von mir und meinem Partner. 

Das Schlimmste in der Pandemie waren für mich die Ohnmacht angesichts des Leids auf der ganzen Welt und die Trauer darüber, dass so viele Menschen sterben mussten. Persönlich bin ich gut durch die Pandemie gekommen. Ich fühlte mich kaum eingeschränkt und hatte auch nie Angst vor dem Virus. Mir war das Privileg, in der Schweiz zu wohnen, stets sehr bewusst. 

Es begann mit der Maske 
Während des Lockdowns telefonierte ich noch regelmässig mit meiner älteren Schwester. Mit ihr war ich 49 Jahre lang in allen grundsätzlichen Betrachtungsweisen einig. 

Von meinen Geschwistern stand sie mir stets am nächsten. Erste Differenzen kamen mit der Maskenpflicht im Sommer 2020. Sie weigerte sich, eine Maske zu tragen. Zunächst begründete sie dies mit einem persönlichen Trauma, das sie durch eine Narkosemaske in der Kindheit erlitten habe. Das konnte ich noch verstehen. Doch dann sagte sie, die Maske gefährde die Gesundheit, sie begann, mir Vorwürfe zu machen, da ich die Maskenpflicht nicht hinterfragte. Sie habe von mir erwartet, ich sei ‹revolutionärer›.

In Gedanken habe ich ihr Dutzende Briefe geschrieben, bin aber immer noch nicht bereit, auf sie zuzugehen.
Daniel R.

Mir wurde klar, dass sie sich auf die Seite der Massnahmengegner geschlagen hatte. Ich schlug vor, das Thema Corona auszuklammern. Sie aber liess keine Gelegenheit aus, im Familienchat und in persönlichen Nachrichten ihre Sichtweise ziemlich aggressiv darzulegen. Sie warf mir und indirekt meinem gesamten, ähnlich gesinnten Umfeld Dummheit, Unaufgeklärtheit, mangelndes Interesse und Gefährdung der Demokratie und des friedlichen Zusammenlebens vor. Sie hatte grosse Angst vor der Impfung. Sie und ein Bruder waren sogar dagegen, dass sich unsere demenzkranke Mutter, die im Heim lebt, impfen liess.  

Ich kann abweichende Meinungen grundsätzlich gut akzeptieren. Zwei Freunde von mir liessen sich ebenfalls nicht impfen. Mit ihnen konnte ich normal darüber reden. Niemand von uns wertete die andere Position ab. Meine Schwester hingegen gab mir zu verstehen, dass ich zu einer kopflosen, manipulierbaren Masse gehöre. Wahrscheinlich war sie gekränkt: Sie fühlte sich durch das Covid-Zertifikat von der Gesellschaft diskriminiert, sah sich in der Opferrolle. Vor der Abstimmung über das Covid-19-Gesetz schrieb sie im Familienchat: ‹Wenn jemand von euch Ja stimmt, nehme ich das im Fall persönlich.›

Ihr Geschwafel von einer Diktatur in der Schweiz fand ich damals schon abstossend. Doch mittlerweile, angesichts des Kriegs in der Ukraine, lassen mich ihr Zynismus und ihr fehlendes Geschichtsverständnis grundsätzlich an ihr zweifeln.

Einfach nur noch traurig 
Seit fast einem Jahr haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. In Gedanken habe ich ihr Dutzende Briefe geschrieben, bin aber immer noch nicht bereit, auf sie zuzugehen. Meine Angst ist viel zu gross, dass sie sofort wieder mit ihrem erleuchteten Getue anfängt.  Lange vermisste ich sie sehr, doch allmählich verblasst dieses Gefühl. Jetzt bin ich nur noch traurig. Es ist, als hätte ich meine Schwester an eine Sekte verloren.»