Schwerpunkt 09. September 2016, von Delf Bucher, Sabine Schüpbach Ziegler

Zwischenrufe in der Burka-Debatte

Islam

Es ist eine Diskussion um ein Symbol. Und oft ist es eine Diskussion um ein Phantom. Nun melden sich religiöse Stimmen in der Burka-Debatte zu Wort.

Die Burka-Debatte ist auf ihrem Siedepunkt. Der «Sommer der Gewalt» hat die Debatte über die Ganzkörperverhüllung angeheizt. 2015 fanden sich unter dem Stichwort «Burka» erst 300 Artikel im Archiv der Schweizer Mediendatenbank. Ende August 2016 waren es bereits 1193 Beiträge. Dabei ist das Wörtchen Burka eigentlich ein falscher Oberbegriff. Der blaue Vollschleier mit Gitterfensterchen, also die afghanische Burka, wird in der Schweiz kaum gesichtet. Hin und wieder taucht hingegen der schwarze Niqab mit dem Sehschlitz auf, der zumindest die Augen der Frau freigibt.

Das sprunghafte Interesse am Vollschleier wirft Fragen auf: Stimuliert ein antiislamischer Populismus das mediale Interesse? So einfach will es sich der Kirchenratspräsident Michel Müller nicht machen. Auch bei ihm weckt der Anblick von «reichen Saudis in kurzen Hosen, die im Schlepptau eine total in Schwarz gehüllte Frau haben», negative Gefühle. Eine solche Kleiderordnung demonstriert für ihn einen patriarchalischen Machtanspruch. Trotzdem sagt er: «Als Religionsvertreter ist es mir unwohl, das Problem mit einem Verbot von Burka und Niqab auf Verfassungsstufe zu regeln.»

Reformiert vermitteln. In der nun ent­flammten Debatte kommt nach Müller den Reformierten eine Vermittlerrolle zu. Einerseits könnten die Reformierten, die selbst keine religiösen Kleider­vor­schrif­ten kennen, die Kritik der säkularen Gesellschaft verstehen. «Andererseits nehmen wir Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer Konfessionen und Religionen», so Müller.

Sein Vorschlag ist ein «Burkaverbot light»: Auf gesetzlicher Ebene Rahmenbedingungen festlegen, die es Restaurants, Museen und Schulen erlauben, ­einen Burka-Bann in ihren Hausordnungen zu verankern, ohne in Konflikt mit dem Diskriminierungsverbot zu kommen. Dabei warnt er vor Aufgeregtheiten. Das Burkini-Verbot an der Côte d’Azur ist für Müller ein beredtes Beispiel, wie schnell sich die französischen Gemeinden zu einer Überreaktion verleiten liessen. Nun pfiff das französische Obergericht zumindest eine Gemeinde zurück.

Auf Rechtsstaatlichkeit setzt auch der Jurist Herbert Winter. Der Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) warnt vor einer generellen Verbotspraxis bei der Burka: «Die Schweiz ist ein liberaler Rechtsstaat. Hier sollte letztlich jeder tragen dürfen, was er möchte. Die Probleme mit dem radikalen Islam lösen wir mit einem Burkaverbot ebenso wenig wie mit einem Minarettverbot.»

Passkontrollen, Autofahren oder das Unterrichten an einer öffentlichen Schule verlangten sicher nach einem unverhüllten Angesicht. Aber dies lasse sich alles ohne neuen Verfassungsartikel regeln. «Mit meiner Position befinde ich mich leider in der Minderheit», sagt Win­ter. Er war schon fast überrascht, dass immerhin 29 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer nach Umfragen der Sonntagspresse eine rigorose Verbots­praxis ablehnen: «Ich habe gedacht, dass noch mehr mit einem symbolischen Ver­bot ein Zeichen setzen wollen.»

Gegen die Gesichtslosen. Herbert Winter wird bald spannende Diskussionen mit Gottfried Locher, Ratspräsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK), führen. Denn im «Rat der Religionen» sind beide vertreten und Gottfried Locher hat jüngst seine Position in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» erläutert. «Kirchen liebäugeln mit Burkaverbot» titelte die Zeitung. Lo­cher präzisiert nun gegenüber «reformiert.»: «Ich trete nicht für ein Burkaverbot ein, sondern für ein generelles Vermummungsverbot.»

Was auf den ersten Blick wie eine Spitzfindigkeit erscheinen mag, ist von Locher wohlbedacht. Während das Burkaverbot religiös aufgeladen ist und sich gezielt an bestimmte fundamentalistische Kreise innerhalb des Islams wendet, ist das Vermummungsverbot ethnisch und religiös neutral. «Es richtet sich gegen alle, die gesichtslos in der Öffentlichkeit auftreten», so Locher. Mit einem Vermummungsverbot seien auch die Ängs­te unbegründet, dass die Verbotspraxis auf religiöse Zeichen wie Kippa, Kreuz oder Kopftuch übergreife. Denn Lochers Maxime – «Alle müssen im öffentlichen Raum eine Identität haben» – betrifft nur das unverhüllte Antlitz.

Böse Worte gegen Nonnen. Indes ist die Atmosphäre für spirituelle Symbole bereits vergiftet. Beispielsweise erzählt Schwester Christiane Jungo vom katholischen Orden der Ingenbohler Schwestern, dass immer häufiger katholische Ordensfrauen mit Musliminnen verwechselt und giftig angesprochen werden. So sehr sich Schwester Christiane an der Burka stört, weil sie das Gesicht unkenntlich mache, so entschieden ist sie gegen den Verbotsweg: «Es wäre schön, wenn die Musliminnen ihre burkatragenden Glau­bensschwestern überzeugen könnten, den Vollschleier abzulegen.»

Muslime selbst stellen klar: Ins schwar­ze Tuch der Burka ist keine re­ligiöse Bedeutung eingewebt (siehe Interview unten). Der Präsident der Vereinigung Islamischer Organisationen in Zürich (VIOZ), Mahmoud El Guindi, sagt denn auch, dass er eigentlich die falsche Adresse sei, um über die Debatte zur Burka Auskunft zu geben: «Hier dreht es sich um Politik und nicht um Religion.» Und ihm sei es ein besonderes Anliegen, die Trennung von Staat und Religion in der Schweiz zu akzeptieren.

Als Privatmann äussert er sich dennoch: «Treffend hat einmal jemand festgestellt: Das Burkaverbot ist so unnötig, wie wenn wir den Walfang im Zürich­-see verbieten würden.» Dass in der mitt­lerweile international geführten Debat­te auch die Schweiz aufgesprungen sei, verwundere ihn ein wenig. Hier wohnten kaum muslimische Frauen, die Vollschlei­er wie Burka oder Niqab tragen. Touristinnen aus der Golfregion hingegen seien von der Geschäftswelt in der Zürcher Bahnhofstrasse oder in Interlaken wegen ihres dicken Portemonnaies wohlgelitten. Hinter der Diskussion vermutet El Guindi eine Stellvertreterdebatte, die den Vollschleier zum Vorwand nimmt, um ein Unbehagen gegenüber dem Islam zum Ausdruck zu bringen.

Ähnlich argumentiert Pfarrerin Esther Straub. Die reformierte Zürcher Kirchenrätin sieht mit einer Kleidervorschrift keine Probleme gelöst. Die populistische Forderung schüre lediglich Islamophobie. Auch für sie gehöre ein unverhülltes Antlitz zu einer liberalen Gesellschaft, sagt die SP-Kantonsrätin. «Doch ein Burka-Verbot ist der falsche Weg.» Wenn man gegen religiösen Fundamentalismus vorgehen oder Migrantinnen vor Isolation und Unterdrückung schützen wolle, sollten Staat und Kirche die Integration und interreligiöse Zusammenar­beit fördern. Es sei paternalistisch, das Burkaverbot als frauenbefreiende Heldentat zu feiern. «Man würde besser vor der eigenen Haustür kehren. In der reformierten Kirche etwa gibt es immer noch kaum Frauen in Leitungsgremien.»

Stresstest für Muslime. Auch Önder Günes, Sprecher der Föderation der Islamischen Dachorganisationen der Schweiz (FIDS), meint: Eigentlich sollte die Debatte um ein Tuch, das nur von ­einer kleinen Minderheit von Musliminnen ge­tragen wird, keinen so grossen politischen Stellenwert einnehmen. «Themen wie die Gewalt gegen Frauen, die wesentlich mehr Menschen gleich welcher Religion betreffen, wären für das politische Handeln weit wichtiger.» Die FIDS hat noch keine endgültige Resolution zur Burka-Frage verfasst. Trotzdem ist sich Önder Günes sicher: «Die nächsten Jahre, in denen diese Debatte köchelt, werden für die islamischen Organisa­tionen der Schweiz sehr arbeitsintensiv werden.»

«women of influence»

1. Reihe (jeweils von links): Hannah Arendt,  (Madonna, Kopf nicht sichtbar), Ségolène Royal, Edith Piaf, Gloria Arroyo. 2. Reihe: Michelle Obama, Josephine Baker, Anne Sexton, Selma Lagerlöf, Angela Merkel. 3. Reihe: Alice Schwarzer, Simone de Beauvoir, Julia Timoschenko,  Gerty Cori. 4. Reihe: Romy Schneider, Ray Eames, Rosa Luxemburg, Jane Godall. 5. Reihe: Indira Gandhi, Brigitte Bardot, Anja Lundholm, Britney Spears. Unterste Reihe: Marlene Dietrich, Ellen J. Sirleaf (nach oben versetzt), Rosa Parks, Margaret Thatcher.