Schwerpunkt 09. September 2016, von Delf Bucher

«Sozialer Druck zwingt Frauen, sich zu verhüllen»

Islam

Politologin Elham Manea über die Symbolik hinter der Verschleierung, den politischen Islam und das Verhüllungsgebot im Koran.

Sie haben im Haus der Religionen ein religiöses Zeremoniell gestaltet ohne Kopftuch. Warum?

Elham Manea: Beim Gebet stehe ich vor Gott, der mich geschaffen hat mitsamt meinem Haar. Was sollte der Grund sein, dass ich das Haar verberge?

Der Koran!

Pardon! Ich lese den Koran auf Arabisch und kann darin keine direkten Kleidervorschriften entdecken. Man muss die vagen Koran-Formulierungen aus ihrem Kontext heraus verstehen. Zur Zeit Mohammeds waren viele seiner Anhängerinnen in Medina pöbelnden Männern ausgesetzt. Mit ihren Übergriffen versuchten sie, die aufkommende islamische Bewegung zu provozieren. Zur Re­de gestellt, rechtfertigten die Männer ihre Übergriffe, dass sie die Frauen mit Sklavinnen verwechselt hätten. So kam der Schleier als Unterscheidungsmerkmal ins Spiel – für die Sklavinnen muslimischer Frauen übrigens nicht.

Also weder Schleier und schon gar nicht die Burka lassen sich religiös begründen?

Beim Schleier streiten sich die Rechtsgelehrten. Aber Burka und Niqab wurden 2010 vom obersten Islamgelehrten Ägyptens, Scheich Muhammad Tantawi, als «unislamisch» bezeichnet.

Woher kommt der Niqab?

Der Niqab wurde den islamischen Frauen von wahhabitischen Muftis, also von Fundamen­talisten, vorgeschrieben. Das Klei­dungs­stück hat dann, gefördert von den Petro­dollars Saudi-Arabiens, seine welt­um­­span­nende Mission begonnen.

Wenn nun aber eine Frau sich aus freien Stücken Kleidervorschriften unterwirft?

Die Annahme, dass sich Frauen freiwillig für die Burka entscheiden, halte ich für absurd. Das mag für eine westliche Konvertitin stimmen. Sie nutzt das Gewand zur Provokation gegen die westliche Gesellschaft, die sie ablehnt. Als ich in Jemen an der Universität als Assistentin lehrte, haben mir viele Studentinnen offenbart: Nur wegen des familiären und sozialen Drucks tragen sie den Niqab.

Und Sie selbst sind in Jemen unverhüllt im öffentlichen Raum aufgetreten?

Meist hab ich keinen Schleier getragen …

… und sind dann angepöbelt worden?

Keineswegs.

Also ist die Begründung, dass Kopftuch oder Burka vor zudringlichen Männerblicken schützen, etwas weit hergeholt?

Hoffentlich. Ich will nicht, dass mein Vater, mein Bruder oder mein Ehemann als Sexmonster angesehen werden, die beim Anblick eines unverhüllten Frauengesichts beinahe zwanghaft übergriffig reagieren. Das habe ich auch in einem Aufsatz geschrieben. Die Reaktion darauf waren Morddrohungen.

Sie reisen öfter nach Ägypten. Hat sich dort die Burka auch ausgebreitet?

In Kairo ist bei jüngeren Frauen eine Abkehr zu beobachten, während der Niqab sich auf dem Land im Salafisten-Milieu stärker verbreitet. Auch beobachte ich: Die Burka wird in islamischen Gemeinschaften populärer, wo sie noch vor einigen Jahre kaum gesehen wurde – beispielsweise in Südafrika und England.

Als Bekenntnis zum politischen Islam?

Leider darf man dies als generelle Annahme unterstellen. Aber es ist nur ein Symptom, sozusagen die sichtbare Spit­ze eines Eisberges. Deswegen trete ich auch für weitergehende Regeln ein. Die Schweiz soll klare Grenzen ziehen, Hasspredigern das Handwerk legen und bei­spielsweise die Al-Nur-Moschee in Winterthur schliessen.

Aber ein generelles Burka- und Niqabverbot lehnen Sie ab?

Ich ringe noch mit mir: Mein Bauchgefühl sagt Ja, mein politischer Kopf Nein.

Was sind Ihre politischen Bedenken?

Dahinter stehen rechtskonservative Kreise, die sich noch nie für die Emanzipation der Frauen starkgemacht haben. Plötz­lich wird die Gleichberechtigung zum Argument für das Burkaverbot. Mir behagt auch nicht, dass hier eine Debatte auf dem Rücken von Frauen ausgetragen wird, die von ihren Männern in ein Gefängnis aus Stoff eingesperrt wurden.

Gibt es keinen dritten Weg?

Universitäten, Schulen und Spitäler können etwa ohne eine Änderung der Verfassung mit Hausordnungen klarstellen, dass die Verhüllung des Gesichts in öffentlichen Gebäuden untersagt ist. So können wir uns die leidige Abstimmung sparen und dennoch in gewissen Räumen klar unsere Werte etablieren. Ein unverhülltes Gesicht gehört für mich dazu.