Da stand eines Tages im April 1932 ein kleines Mädchen vor der Tür des Pfarrhauses von Furna und kramte aus seinem Rucksack eine grosse Summe Geld: 2500 Franken. Der Aktuar der Kirchgemeinde hatte seine Tochter zur Pfarrerin geschickt, mit dem Lohn für ein ganzes Jahr. Und das, weil der Bündner Kirchenrat gedroht hatte, das Vermögen der Kirchgemeinde Furna zu sperren, solange diese widerspenstigen Bergler darauf beharrten, eine Pfarrerin zu beschäftigen.
Diese Anekdote ist seit Langem bekannt. Jetzt hat sie die Journalistin Christina Caprez im Buch «Die illegale Pfarrerin» in -einen grösseren Zusammenhang gestellt. Jene Theologin und Pfarrerin, Greti Caprez-Roffler, die von 1906 bis 1994 lebte, und die damals für viel Aufregung gesorgt hatte, ist die Grossmutter der Autorin. Sie hinterliess unzählige Dokumente, Briefe, Tagebücher, Zeitungsausschnitte – ein wahrer Schatz für die Recherchen der Enkelin. Auch Gespräche mit Zeitzeugen – betagte Gemeindeglieder aus Furna und Familienangehörige – trugen bei zum Bild jener mutigen, umstrittenen Frau und den bitteren Auseinandersetzungen um das Frauenpfarramt.
Vom Vater so gewollt
Widersprüchlichkeit – das ist es, was in diesem Konflikt immer wieder auffällt. Da ist zum Beispiel Gretis Vater, ein Bauernsohn aus dem Bergdorf Furna, der studieren durfte, allerdings nicht Mathematik, wie er es sich wünschte, sondern «nur» Theologie – wegen der Stipendien. Aber er wird ein einflussreicher Pfarrer und will nun, dass seine älteste Tochter den gleichen Weg geht. Nur zögernd beginnt sie das Studium. Aussichten auf ein reguläres Pfarramt hat sie sowieso nicht. Überhaupt weiss Greti nicht, ob sie diesen Weg gehen will. Predigen? Lieber nicht! Oder vielleicht doch? Aber sie darf ja gar nicht!
Als sich Greti in den Bündner ETH-Studenten Gian Caprez verliebt wird die Angelegenheit noch komplizierter. Einerseits ist Greti äusserst zielgerichtet, anderseits hin- und hergerissen zwischen ihren persönlichen Wünschen und den gesellschaftlichen Vorgaben.
Da Gian Caprez eine Stelle in Brasilien in Aussicht hat, heiraten die beiden und ziehen nach São Paulo. Greti hat eine klare Vorstellung: Sie will sich dort auf die theologischen Prüfungen vorbereiten, schwanger werden, heimreisen, die Examen ablegen und ihr Kind zur Welt bringen. Und tatsächlich: Es klappt alles, genau so.
Mütter sollen nicht arbeiten
Dann das Unerhörte: Die Gemeinde Furna stellt Greti Caprez als Pfarrerin an. Gegen den Willen des Bündner Kirchenrates. Das zeugt vom Selbstbewusstsein und dem Starrsinn der Dorfbewohner – aber es ist auch vorteilhaft für die Gemeinde: Sie muss nur einen Frauenlohn zahlen. Nachdem die Kasse gesperrt wird, arbeitet Greti gratis.
In den Kantonen sind die Bedingungen für die Berufstätigkeit von Theologinnen unterschiedlich, doch vom Pfarramt sind sie überall ausgeschlossen, der Widerstand der Gemeinden und Pfarrer ist stark. Unter den Frauen herrscht kaum Solidarität. Unverheiratete Theologinnen wollen die Chancen für sich behalten und lehnen die verheirateten Kolleginnen deshalb ab. So schreibt die Theologin Dora Scheuner: «Die berufstätige Frau bedeutet einen Notstand für die Familie, der nicht zur Regel werden darf.»
Auch Greti leidet unter diesem «Notstand»: Ihr Mann muss im Engadin den Lebensunterhalt verdienen und kann die Familie nur am Wochenende besuchen. 1934 zieht das Paar, nun mit zwei Kindern, nach Zürich. Auch Gian Caprez studiert nun Theologie. Aber ein partnerschaftliches Pfarramt bleibt ein Traum. Die Gesetze, die Menschen in den Kirchgemeinden und auch die Paarbeziehung verhindern es.
Vorbilder wider Willen
Die Geschichte von Greti Caprez weckt widersprüchliche Gefühle: ein Unbehagen den damals so selbstverständlichen Werten und Rollenvorstellungen gegenüber, Hochachtung und Mitgefühl für jene, die den Kampf für die Gleichberechtigung durchgetragen haben, gegen die äusseren und ihre eigenen inneren Widerstände. Vorbilder wider Willen waren sie, und dabei wären sie doch lieber ganz gewöhnliche Frauen und Männer gewesen, so wie wir es heute sein können, auch dank ihnen.
Christina Caprez: Die illegale Pfarrerin. Limmat-Verlag, 2019, 286 Seiten, Fr. 44.–.