Migration ist eins der zentralen Themen unserer Zeit. Wie sehen Sie die Entwicklung?
Marc Bloch: Mit zunehmendem Wohlstand und weniger Kriegen auf der Welt wird der Migrationsdruck abnehmen. Zugleich sehen wir, dass im globalen Norden die Nachfrage nach gut qualifizierten Arbeitskräften aus dem Süden exponentiell steigt. Es besteht deshalb theoretisch die Hoffnung auf Besserung. Eine kontrollierte Migration vom Süden in den Norden könnte für beide Seiten eine Win-win-Situation darstellen. Praktisch aber spielen die klimatischen Veränderungen in der Migrationsthematik eine grosse Rolle. Es werden sich mehr Menschen aus afrikanischen Ländern auf den Weg nach Europa machen.
Ist Ihre Hoffnung nicht zu optimistisch?
Die meisten Menschen, die auf der Flucht sind, kommen aus Kriegsgebieten wie Somalia, Eritrea oder dem Sudan. Unsicherheit, Unterdrückung und Krieg sind die Haupttreiber für Migration. Natürlich spielt der Klimawandel dabei eine grosse Rolle. Aber theoretisch hätte die Menschheit das Wissen, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Ob wir die Vernunft dazu haben, ist jedoch eine offene Frage. Ich bin und bleibe aber optimistisch.
Wie sieht die Unterstützung des globalen Südens in Zukunft aus?
Wir werden immer mehr von der traditionellen Aufteilung Nord und Süd wegkommen. Wir leben in einer Welt der internationalen Zusammenarbeit. Menschen mit mehr Wissen teilen dieses Wissen mit anderen unabhängig von ihrer Herkunft. Tatsache ist jedoch, dass es nach wie vor ein enormes Wohlstandsgefälle gibt, das sich in naher Zukunft wohl kaum ändern wird.
Haben Sie Ideen, wie man hier ansetzen könnte?
In Zukunft wird es mehr Wertschöpfung in den afrikanischen Ländern geben. Anstelle von Rohprodukten werden vermehrt Endprodukte exportiert werden. Können Sie ein Beispiel nennen? Nehmen wir die Kakaobohne, gerade für die Schweiz ein wichtiger Rohstoff, der zukünftig auch im Herkunftsland verarbeitet werden könnte. Die Gewinne werden vor allem in der Verarbeitung gemacht. So könnten auch diese Gelder im Land bleiben. Wir alle wissen, dass der Bauer – der Produzent von Rohstoffen – den kleinsten Anteil des Endpreises erhält. Aber es gibt weitere Bereiche, deren Entwicklung ich positiv sehe.
Die da wären?
Ich bin davon überzeugt, dass Afrika weiterhin zu den beliebten Tourismusdestinationen gehören wird und sich die Zahl der Gäste erhöhen wird. Die einzigartige Natur wird mit zunehmendem Verlust der Artenvielfalt und dem Klimawandel für den globalen Norden sehr wichtig werden. Ausserdem darf man die Digitalisierung nicht vergessen. In der Bildung, im Handel oder im Gesundheitsbereich gibt es noch Möglichkeiten der Verbesserung. Das wird ebenfalls zu besseren Lebensbedingungen führen.
Die Arten verschwinden und die Touristen kommen?
Es gibt in Afrika viele Bestrebungen, das Bewusstsein für die Natur zu stärken und die Artenvielfalt zu erhalten. Man muss Anreize schaffen, die die Bevölkerung davon abhalten, die Artenvielfalt zu zerstören. Dies wird in Kenia bereits aktiv gemacht. Und das wird den Tourismus weiter ankurbeln.
Sie sind seit mehr als 30 Jahren in der Entwicklungshilfe tätig. Was hat sich seither verändert?
Ich glaube, wir haben während der letzten 30 Jahre sehr viel gelernt. Wir sprechen nicht mehr von Hilfe oder Entwicklung. Wir sprechen von internationaler Zusammenarbeit (IZA). Allein die Begriffe sagen schon viel über die Veränderungen aus. Heute geht es um ein ausgewogenes Verhältnis. Es heisst nicht mehr: «Wir kommen und helfen oder entwickeln euch.» Es ist ein Austausch geworden. Heute sind wir beratend tätig und bringen Menschen mit Wissen zusammen. In den vergangenen Dekaden haben wir in der internationalen Zusammenarbeit viel Fachwissen erworben. Meine Aufgabe als Experte ist es heute, kritische Fragen zu stellen, und nicht mehr, alle Lösungen zu bringen.
Comundo, die Organisation, für die Sie aktuell arbeiten, engagiert sich in den afrikanischen Ländern vor allem im Bildungssektor. Wieso gerade in diesem Bereich?
Mit Bildung kann man nie falschliegen. Egal in welchem Land und wie die Bedingungen sind. Sowohl auf Makro- wie auf Mikroebene ist das immer sinnvoll. Einem jungen Menschen Zugang zur Schule zu ermöglichen, öffnet ihm viele Türen. Dazu zählt auch die Versorgung mit Nahrung. Du kannst nicht mit leerem Magen lernen. Das wissen wir. In den vergangenen 30 Jahren haben wir Schulen und Wassersysteme gebaut und damit Strukturen geschaffen und gestärkt, die heute selbstständig arbeiten. Wenn zum Beispiel eine Mutter nicht zwei Stunden zum nächsten Brunnen laufen muss, um Wasser zu besorgen, hat sie mehr Zeit für die Kinder. In der Bildung liegt der Schlüssel zu Wohlstand und Gesundheit und führt damit auch zu Frieden.
Sie sind in einem sehr christlich und muslimisch geprägten Land unterwegs. Wie gestaltet sich das vor dem Hintergrund Ihres jüdischen Glaubens?
Religion spielt für mich eine untergeordnete Rolle. Ich bin in Afrika wegen der Arbeit und meiner Familie. Die Kirche ist aber einer der wichtigsten Partner in der internationalen Zusammenarbeit. Das ist ganz klar. Wie viele andere Hilfswerke leistet zum Beispiel auch das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche (Heks) gute Arbeit in den Ländern des globalen Südens.
Und wieso haben Sie Afrika, genauer Kenia, zu Ihrem Lebensmittelpunkt gemacht?
Einmal Afrika, immer Afrika (lacht). Während des Studiums war ich für einen Studentenaustausch in Kenia. Seither kenne ich nur noch Afrika. Ich bin seit 28 Jahren mit einer Kenianerin verheiratet, meine Kinder sind hier geboren und aufgewachsen. Ein Buchtitel der britischen Autorin Doris Lessing, die 25 Jahre im heutigen Südafrika gelebt hat, lautet «Der Zauber ist nicht käuflich». Das trifft es wohl am besten.