Recherche 25. April 2023, von Katharina Kilchenmann

Glaubensstreit um Waffen für den Frieden

Politik

Angesichts des Ukraine-Kriegs gerät die Schweizer Neutralität unter Druck: Wie soll sich das Land positionieren? Auch in kirchli­­chen Kreisen gibt es keine eindeutigen Antworten.

Damals war sich Johannes Bardill, der reformierte Pfarrer aus Horgen, noch sicher. Als er 2018 zusammen mit 150 weiteren Zürcher Pfarrpersonen in einem offenen Brief den Bundesrat aufforderte, auf die geplante Lockerung der Ausfuhrbedingungen für Kriegsmaterial zu verzichten.

«Geld verdienen mit dem Krieg und Geschäfte machen auf Kosten von Menschenleben, dagegen wollten wir uns wehren», sagt der erklärte Pazifist. Um im nächsten Moment zu ergänzen: «Doch leider ist diese Haltung im letzten Jahr stark unter Druck geraten.»

Tatsächlich stellt der Krieg in der Ukraine die Überzeugungen von Johannes Bardill und vielen anderen in der Friedensbewegung auf die Probe: «Ist meine eigene pazifistische Haltung so viel wert, dass ich anderen die dringend nötigen Mittel zur Verteidigung ihres Lebens verweigern darf?» Gewissheiten des einstigen Kriegsdienstverweigerers Bardill sind erschüttert.

Ich kann und will nicht aus pazifistischen Gründen von den Ukrainerinnen und Ukrainern verlangen, dass sie kampflos untergehen.
Johannes Bardill, Pfarrer und Pazifist

«Ich kann und will nicht aus pazifistischen Gründen von den Ukrainerinnen und Ukrainern verlangen, dass sie kampflos untergehen», sagt Bardill heute. Und wenn die Schweiz schon Waffen produziere und sie an Staaten wie Saudi-Arabien verkaufe, dann könne sie auch die Ukraine unterstützen. «Denn alles andere ist Doppelmoral.»

Abseitsstehen unerwünscht

Die Schweiz musste sich den Vorwurf der Doppelmoral tatsächlich von Politikern aus Nachbarstaaten anhören. In Deutschland hat man wenig Verständnis, wenn der Bundesrat die Erlaubnis verweigert, in der Schweiz gekauftes Kriegsmaterial an die Ukraine weiterzugeben.

Neutral sein im Sinn von sich enthalten und abseitsstehen sei keine Option, sagte auch Ursula von der Leyen, die Kommissionspräsidentin der Europäischen Union. Damit mache ein Land sich mitschuldig.

In der innenpolitischen Debatte, ob und wie die Schweiz die Ukraine militärisch unterstützt, geht es also um die Frage der Neutralität. Der viel diskutierte Begriff stellt für die einen das Gute schlechthin dar. Anderen dient er als Legitimation, eigene Vorteile durchzusetzen. Und für die Dritten ist er bloss noch ein historisches Auslaufmodell.

Sich dem Weiterverkauf von Kriegsmaterial zu verweigern, hiesse, eine noch grössere Schuld auf sich zu laden.
Christina Aus der Au, Thurgauer Kirchenratspräsidentin

Festgeschrieben ist die Neutralität in der Bundesverfassung. Wie sie ganz konkret umgesetzt wird, entscheiden jedoch der Bundesrat und die Bundesversammlung.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es für die Ausgestaltung der Neu­tralität keine klaren Richtlinien gibt. Die Diskussion, wie die Schweiz ihrem Auftrag, neutral zu bleiben, am ehesten nachkommt, ist daher entsprechend vielstimmig. So auch in der Positionierung seit dem russischen Angriff auf die Ukraine.

Kompromisse für «das Bestmögliche»

Weit auseinander gehen auch die Meinungen in kirchlichen Kreisen. Für die Thurgauer Kirchenratspräsidentin Christina Aus der Au etwa ist es keine Option, sich auf eine neutrale pazifistische Position zurückziehen. «Als Teil der abendländischen Wertegemeinschaft und des völkerrechtlichen Konsenses müssen wir Kompromisse eingehen, um das Bestmögliche zu realisieren», sagt die reformierte Theologin.

So sollten Staaten in der Schweiz gekauftes Kriegsmaterial an die Ukraine weitergeben dürfen. «Auch das ist für mich christliches Handeln.» Selbst wenn dieser Entscheid mit Schuld verbunden sei. «Sich dem zu verweigern, hiesse, eine noch grössere Schuld auf sich zu laden.»

Sich für den Frieden einzusetzen, das scheinbar Unmögliche immer wieder zu formulieren, beeinflusst auch das Denken und Empfinden der Menschen.
Lukas Amstutz, evangelische Glaubensgemeinschaft der Mennoniten

Gegenteiliger Meinung ist Lukas Amstutz von der evangelischen Glaubensgemeinschaft der Mennoniten. Er ist gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. «Ich will nicht Teil des Narrativs werden, wir hätten keine andere Wahl, als das sinnlose Töten zu unterstützen», erklärt der Leiter des mennonitischen Zentrums Bienenberg seine Haltung. Gerade die Kirche habe die Aufgabe, den «dritten Weg» aufzuzeigen: den Weg hinaus aus der Gewaltspirale.

Pazifismus unter Druck

Viel wichtiger als kurzfristige Hilfsangebote sind für Amstutz Antworten auf die Frage: Was dient letztlich dem Leben? Der Mennonit fordert Christinnen und Christen im Westen dazu auf, die Kanäle zur russisch-orthodoxen Kirche weiterhin offen zu halten und den Austausch zu suchen.

«Sich für den Frieden einzusetzen, das scheinbar Unmögliche immer wieder zu formulieren, beeinflusst auch das Denken und Empfinden der Menschen», erklärt Amstutz. Pazifismus sei nicht naiv, wie einige behaupteten. «Vielmehr ist es naiv, die Option des Friedens aus dem Diskurs zu verdrängen.»

Die richtige Position der Schweiz im Spannungsfeld der Geopolitik scheint es nicht ohne Ambivalenzen zu geben. Es braucht einen Kompass, der anzeigt, wann Neutralität in Feigheit kippt. Und der deutlich macht, wann solidarisches Handeln das Gebot der Stunde ist.

Neutral zu sein bedeutet auch, sich Zeit für ein Ur­teil zu nehmen.
Mathias Wirth, Ethiker Universität Bern

Neutralität sei immer eine Abwägung und könne nur im Verbund mit anderen Werten praktiziert werden, sagt Mathias Wirth, Ethiker an der Universität Bern. Das Gesetz verbietet, dass Staaten in der Schweiz gekaufte Munition weitergeben können.

Verhindert die neutrale Schweiz damit, dass  der angegriffenen Ukraine in einer Notlage geholfen werden kann? Darüber werde zu Recht diskutiert, findet Wirth. «Neutralität ist kein absoluter Begriff, den es nur ganz oder gar nicht gibt.» Graduelle Abstufungen erlaubten es, eine Partei zu unterstützen, ohne damit die Glaubwürdigkeit der Neutralität zu verlieren. «Aus ethischer und christlicher Sicht erscheint es mir wichtig, als neutrales Land für alle in den Konflikt Involvierten – auch für die Aggressoren – als Gesprächspartner zur Verfügung zu stehen.»

Neutral zu sein bedeute auch, vorschnelle Urteile zu vermeiden. So entstehe Zeit für genaue Analysen, meint Wirth. «Vorausgesetzt, dass andere in der Staatengemeinschaft die Rolle der schnellen Hilfeleister übernehmen.» Theologie und Kirchen reflektierten seit Jahrhunderten über das Böse in den Menschen, über Krieg und Frieden und über die Frage nach Gott angesichts des Bösen. «Sie könnten viel zur Diskussion beitragen und daran erinnern, wie wichtig sie für den ethischen und politischen Diskurs sind», sagt der Ethiker.