Recherche 25. April 2023, von Mirjam Messerli

«Der Begriff wird mythisch überhöht»

Neutralität

Die Schweizer Neutralität sei von reinem Nützlichkeitsdenken bestimmt, sagt der Historiker Peter Hug.

Weshalb ist die Schweiz ein neutraler Staat?

Weil es seit dem 17. Jahrhundert für die Eliten nützlich war, ihre wechselvolle Aussenpolitik und die Abhängigkeit von anderen Mächten mit dem Begriff der Neutralität zu verschleiern. «Neutralität» bezeichnet seither immer wieder etwas anderes, ist im Inland aber gleichbedeutend mit «das Gute». Die meisten europäischen Mächte haben seit der Renaissance-Zeit in Völkerrechtsverträgen die Rechtsfolgen einer situativen Neutralität geregelt. In der Schweiz hingegen wurde die Neutralität mythologisch überhöht.

Dennoch wird Schweizer Neutralität recht pragmatisch umgesetzt.

Genau. Die hartnäckige Weigerung des Bundesrates, Brüche in seiner Aussenpolitik als solche darzustellen, hat freilich schädliche Folgen. Die Betonung der angeblichen Kontinuität der Aussenpolitik trägt dazu bei, dass sich die Öffentlichkeit in der Illusion einer fiktiven Stabilität wiegt – sowie Bedeutung und Umfang der internationalen Zusammenarbeit nicht kennt.

Wie neutral war die Schweiz während der beiden Weltkriege?

Die Schweiz wurde nicht in den Krieg hineingezogen, weil sie glücklicherweise nicht neutral war. Jedoch wenig Applaus erhielt sie, weil sie zugleich an den Kriegen der anderen kräftig mitverdiente und vor und nach 1945 nichts zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus und dem Faschismus beitrug. Wer das richtig fand, sagte dem «neutral», die anderen nicht.

Wer ganz neutral nicht zwischen dem Angreifer und dem Überfallenen unterscheidet, erklärt den moralischen Bankrott.
Peter Hug, Historiker

Kann die Schweiz im aktuellen Ukraine-Krieg neutral bleiben?

Wer ganz «neutral» nicht zwischen dem Angreifer und dem Überfallenen unterscheidet, erklärt den moralischen Bankrott. Aus ethischer Sicht und aus Sicht der UNO-Charta gibt es gegenüber einem Angriffskrieg keinen Raum für Neutralität. Namentlich der Rohstoffhandelsplatz Schweiz, der massiv von Putins Krieg profitiert und diesen kräftig mitfinanziert, sieht aber natürlich kein Problem, «neutral» zu bleiben.

Peter Hug

Der 67-jährige Berner Historiker arbeitete bis 2004 in der Forschung und dann als 
internationaler Sekretär der SP Schweiz.