Recherche 26. Oktober 2020, von Nicola Mohler

In der Krise Körper und Seele schützen

Gesundheit

Unter der Corona-Pandemie leiden Menschen mit Demenz ganz besonders. Speziell gefordert sind ebenso ihre Angehörigen, die Pflegeheime und die Seelsorgenden. 

Für Sylvia Töppel ist das Coronavirus eine zusätzliche Belastung in ihrem Alltag. Die 82-Jährige pflegt ihren an Demenz erkrankten Mann zu Hause. «Er sieht nicht ein, warum er eine Maske tragen soll, und zieht sie ständig aus.» Wenn sie mit ihm im ÖV unterwegs ist, gerät sie unter Druck. «Wegen der Blicke der Passanten bin ich ständig wie auf Nadeln. Vor einer Ansteckung habe ich keine Angst.» 

Ein Lockdown hat grosse Auswirkungen auf ihr Leben. «Nicht wegen meines Mannes, der die Situation nicht versteht. Ich fürchte, dass Tagesroutinen und Entlastungsangebote wieder wegfallen.» Seit ein paar Wochen verbringt ihr Mann zwei Tage in einer Tagesklinik, was für sie eine grosse Entlastung ist. «Diesen Sommer war ich mit meinen Kräften am Ende. Erstmals seit Jahren kann ich wieder meine Batterien aufladen.»  

Emotionaler Schmerz

Brigitte Weinheimer kennt die Bedürfnisse von Menschen, die  Angehörige mit Demenz zu Hause pflegen. Die Fachverantwortliche für die Psychologie in den Zürcher Pflegezentren führt die wöchentlichen Treffen für Demenzkranke und deren Angehörige durch – ein Angebot der Reformierten Kirche Zürich. «Während des Lockdowns kamen Angehörige oft an den Rand der Verzweiflung, fielen Unterstützungsangebote alternativslos von heute auf morgen weg.» Weinheimer hat festgestellt, dass sich viele Angehörige gehetzt und hilfslos fühlten. «Hinzu kommt die Angst vor einer Ansteckung der pflegebedürftigen Person.» Auch eine eigene Infektion wäre eine Belastung, weil dann die Versorgung und Pflege des Angehörigen zu Hause nicht mehr gewährleistet sei.

Die Psychologin weiss zudem von den Sorgen jener Menschen, deren Angehörige in Pflegeeinrichtungen sind. Geschlossene Türen, Gespräche durch Plexiglas oder per Internet: «Viele Leute erlebten dabei einen emotionalen Schmerz, weil sie ihre Liebsten nicht mehr in den Arm nehmen konnten.» Die fehlenden Berührungen und Kontakte haben gemäss Weinheimer die kognitiven Fähigkeiten der Menschen mit Demenz massiv verschlechtert. Sie führt dies auf fehlende Anregungen zurück: wegen Corona kein gemeinsames Einkaufen oder Kuchenessen, keine professionelle Aktivierung in Tageskliniken und Heimen. «Die Menschen vereinsamten», lautet Weinheimers Fazit.

Indiviudelle Einschätzung

Die Organisation Alzheimer Schweiz fordert von Politik und Behörden, bei ihren Empfehlungen die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz und ihrer Angehörigen stärker zu berücksichtigen. Dieser Ansicht ist ebenfalls Markus Leser von Curaviva Schweiz, dem Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf. «Besuchsverbot und Lockdown kamen für alle sehr schnell», sagt der Gerontologe. «Man konzentrierte sich auf die Vermeidung von Infektionen und berücksichtigte zu wenig, dass auch Geist und Seele eine wichtige Rolle spielen.»

Die heutige Situation sei mit jener im März nicht vergleichbar – Schutzkonzepte seien erarbeitet und Schutzmaterial beschafft worden. «Die Situation muss in jedem Heim einzeln betrachtet werden», sagt Leser. Er verlangt von jeder Institution, dass sie eine Balance zwischen dem Schutz und der Selbstbestimmung von Menschen mit Demenz findet. Sofern für Menschen mit Demenz das Coronavirus keine primäre Gefahr darstelle, sollten Begegnungen möglich sein, so Leser. Zudem habe man gute Lösungen gefunden im Dialog mit anderen Organisationen, mit Pflegenden und Ärzten, Angehörigen und Bewohnerinnen, Ethikern und Seelsorgern.

Auch Michael Coors, Professor für Theologische Ethik an der Universität Zürich, macht sich für die Seelsorge in Pflegeinstitutionen stark: «Es ist extrem wichtig, dass Menschen mit Demenz, sofern sie das wünschen, während der Corona-Pandemie eine seelsorgerliche oder geistliche Begleitung bekommen können – natürlich unter den erforderlichen Vorkehrungen zu ihrem Schutz.»