Die Aufgabe scheint mir sehr einfach: Vor mir auf dem Tisch steht eine Box, die auf der Vorderseite und im oberen hinteren Teil offen ist. Im Spiegel an der Hinterwand sehe ich, was sie enthält: ein paar Murmeln, Becher, Stifte, Plastikbeutel, Gummis, einen Löffel. Diese soll ich nun aufräumen. Auf einer Anleitung sehe ich, wie: mit den Händen durch die vordere Öffnung in die Box greifen, Stifte rechts und links zur Seite legen, alle Murmeln und drei Beutel in die Hand nehmen.
Einblick in eine Welt, die jeden betreffen kann
Wie fühlt sich Demenz an? Im Kirchgemeindehaus Gontenschwil konnten Interessierte dies
mit einem Demenzsimulator nachempfinden. Eine verwirrende, aber lehrreiche Erfahrung.
Irritiert und frustriert
«Das geht schnell», denke ich und lege los. Aber schon nach wenigen Sekunden bin ich irritiert. Da sind nur zwei statt drei Beutel, wo ist der dritte? «Hier stimmt etwas nicht», geht es mir durch den Kopf, doch ich mache weiter. Die Murmeln einzeln in die Becher fallen lassen, ohne die Beutel zu verlieren, ist knifflig. Ausserdem bewegt sich meine Hand im Spiegel partout nicht dorthin, wo sie mein Kopf hinbefiehlt. Ärger steigt auf, Stress und Ungeduld. Je länger die Aufgabe dauert, desto grösser wird mein Frust. Am liebsten würde ich aufgeben.
13 verschiedene Posten lang bin ich Erna Müller, eine Frau, die an Demenz erkrankt ist. So heisst die fiktive Protagonistin, in deren Rolle Menschen schlüpfen, die den Demenzsimulator ausprobieren. Sie erleben ihren Alltag, vom Ankleiden übers Frühstückmachen bis hin zum Einkaufen oder Aufräumen.
Mit fortschreitender Krankheit wird es für sie immer schwieriger, alltägliche Handlungen richtig auszuführen. Die Auffassungsgabe und das Kurzzeitgedächtnis sowie ihre Orientierung und Geschicklichkeit nehmen kontinuierlich ab.
Aufgaben fast unmöglich
Auf dem Parcours sind die Aufgaben so konzipiert, dass man die Symptome von Demenz eindrücklich nachempfinden kann. Es ist praktisch unmöglich, sie zu erledigen.
«Es ist genial und gleichzeitig perfid», sagt Kirchenpflegerin Elsbeth Haefeli. Sie hat den Demenzsimulator ins Kirchgemeindehaus Gontenschwil geholt und die Posten am Vorabend ausprobiert. «Man schafft die Aufgaben nicht oder nur mit allergrösster Anstrengung. Am Schluss fühlt man sich dement.»
Verlust der Normalität
153 000 Menschen mit Demenz lebten 2023 in der Schweiz. Jedes Jahr kommt es laut der Organisation Alzheimer Schweiz zu 32 900 Neuerkrankungen. Die Betroffenen und ihre Angehörigen müssen lernen, mit den tiefgreifenden Veränderungen, die Demenzerkrankungen mit sich bringen, umzugehen. Das ist für alle Beteiligten eine Herausforderung, denn Menschen mit Demenz nehmen sich selbst und die Welt anders wahr. Auf den Verlust der Normalität reagieren sie oft mit heftigen Emotionen.
Der Demenzsimulator hilft, sich in die Erlebenswelt der erkrankten Menschen einzufühlen. Entwickelt wurde das Aufgabenset vom deutschen Studenten Leon Maluck, der in Pflegeheimen für Demenzkranke gearbeitet hat. Die Aargauischen Landeskirchen haben den Parcours im vergangenen September angeschafft und leihen ihn seither an Kirchgemeinden und interessierte Organisationen aus.
Das Angebot ist begehrt. Schon kurz nach der Anschaffung gehörte der Demenzsimulator zu den am häufigsten nachgefragten Medien.
«Das Zielpublikum sind alle, die privat oder beruflich mit Demenzbetroffenen zu tun haben», sagt Karin Grösser von der Fachstelle Diakonie. Sie ist bei der reformierten Landeskirche Aargau für den Demenzsimulator zuständig. «Angehörige, Freunde und Bekannte profitieren von der Erfahrung, aber auch Freiwillige des Besuchsdiensts, des Palliative-Care-Begleitdiensts und Menschen, die mit Demenzbetroffenen arbeiten.»
Ernst nehmen und verstehen
Als Ergänzung zum Parcours empfiehlt Grösser den Kirchgemeinden, eine Demenzfachperson in den Anlass einzubeziehen. So wie in Gontenschwil-Zetzwil.
Die pensionierte Pflegefachfrau Kathrin Siegenthaler hält am späteren Morgen ein viertelstündiges Referat, in dem sie die drei Phasen einer Demenz beschreibt: Das erste Stadium ist geprägt von zunehmender Vergesslichkeit, das zweite von Verwirrtheit und motorischen Schwächen. In der dritten Phase der Krankheit gehen dann auch die Sprache sowie kognitive und motorische Fähigkeiten verloren.
Kathrin Siegenthaler weist auch darauf hin, dass die sogenannte Validation für Demenzbetroffene besonders wichtig sei, vor allem in der mittleren Phase: «Das bedeutet, wir nehmen das Erleben des Demenzkranken ernst und versuchen seine Sichtweise, Bedürfnisse und Gefühle zu verstehen, wir korrigieren ihn nicht.» Wie die Fachfrau betont, könne sich auch ein schwer dementer Mensch in seiner Welt glücklich und zufrieden fühlen.
Ins Gespräch kommen
Nach dem Referat nutzen die Anwesenden die Möglichkeit, Fragen zu stellen und sich auszutauschen. Ein älterer Mann erzählt vom schwierigsten Moment mit seiner dementen Mutter: «Sie drohte mir, die Polizei zu holen, weil sie mich nicht mehr kannte.» Siegenthaler nickt verständnisvoll und sagt: «Die Angehörigen leiden manchmal mehr als die Betroffenen.»
Der Demenztag in Gontenschwil zeigt, wie wichtig es ist, sich mit dieser Krankheit auseinanderzusetzen und über sie ins Gespräch zu kommen – der Parcours macht das möglich. Organisatorin Elsbeth Haefeli freut sich über die zahlreichen positiven Rückmeldungen. «Auch unser zehnköpfiges Team von Freiwilligen, das den Parcours betreute, hat viel dazugelernt und profitiert», sagt sie.
Für Aargauer Kirchgemeinden ist die Ausleihe des Demenzsimulators kostenlos,
externe Ausleiher bezahlen Fr. 250.–. Fachstelle Katechese/Medien, 062 836 10 63, www.aareka.ch/demenzsimulator