Wenn einem das Glück in der Mittagspause zufliegt

Seelentankstelle

Vögel sind die für uns Menschen wohl sichtbarsten Wildtiere. Sie bevölkern auch die Stadt – und bieten damit auch auf einem öden Mittagsspaziergang reichlich Seelennahrung.

«Kann das wirklich wahr sein? Ein Eisvogel? Hier?» Ich war überrascht auf meinem Spaziergang stehen geblieben. Dieser türkisblaue fliegende Edelstein konnte nur ein Eisvogel sein. Dass es weiter flussabwärts an der Aare Eisvögel gibt, wusste ich, doch hier im Berner Mattequartier hätte ich keinen erwartet. Ein Glücksmoment en passant!

Es war nicht das erste Mal, dass mich die Vögel in meiner Mittagspause beglückten. Und jedes Mal staune ich wieder darüber. Denn der Weg, den ich jeweils dem Fluss entlang gehe, führt über keine besonders schöne Strasse. Eine schnurgerade Asphaltwüste, im Sommer brennend heiss. An Natur erinnert sie einen höchstens im negativen Sinn: Man vermisst sie und denkt an Hitzeinseln und Klimaerwärmung.

Wir präsentieren: Seelentankstellen

Wir alle kennen Orte, an denen wir im Alltag kurz innehalten und neue Energie schöpfen können. Oder Tätigkeiten, die uns beruhigen, erden und mit neuem Schwung weitermachen lassen. Die Berner Redaktionsmitglieder von «reformiert.» erzählen in dieser herbstlichen Serie von ihren persönlichen Seelentankstellen. Lassen Sie sich überraschen oder inspirieren! Weitere Beiträge finden Sie unten verlinkt.

Doch offenbar stört das die Vogelwelt hier wenig. Da jagen Rauchschwalben und Gebirgsstelzen über dem Wasser nach Insekten und Kormorane unter Wasser nach Fischen. Auch Graureiher, Mittelmeermöven, Wasseramseln und Distelfinke sind mir hier schon begegnet, neben häufig anzutreffenden Arten wie Haussperlingen (Spatzen), Rabenkrähen und Stockenten.

Dass es hier viele Vögel gibt, fiel auch einem Maturanden auf: Letztes Jahr schrieb der 20-jährige Jan Strasky als Maturaarbeit einen Vogelführer für die Region Bern, in dem er das Berner Schwellenmätteli als Beobachtungsspot empfiehlt – ein Ort mitten in der Stadt. Das Schwellenmätteli liegt gleich gegenüber von meinem mittäglichen Spazierweg, auf der anderen Seite der Aare. Hier gibt es Kiesbänke im Fluss und einen alten Laubwald am Ufer. Zudem werden die Vögel hier nicht durch Schwimmer und Schwimmerinnen oder Schlauchboote gestört. Diese verlassen das Wasser jeweils vor der Schwelle, von der das Schwellenmätteli seinen Namen hat.

Meine fliegenden Nachbarn

Straskys Vogelführer besitze ich nicht, jedoch habe ich diverse andere, in Buch- und App-Form, in die ich meine Nase eine Zeitlang fast täglich steckte. Dazu begleitete mich der Feldstecher auf all meinen Ausflügen nach draussen, egal wie kurz sie waren (heute ist er leider etwas seltener im Gepäck). Meine Neugierde hatten damals die vielen laut «Srih» rufenden dunkelgrauen Vögel erweckt, die jeweils im Sommer herumsausten. Ich wollte wissen, wer das ist, der da mit mir im Quartier wohnt. 

Es waren Mauersegler. Und diese zählen für mich zu den faszinierendsten Vogelarten, was mein «Vogelfieber» definitiv in Gang brachte: Mauersegler legen in ihrem bis zu 20 Jahre dauernden Leben rund 190 000 Kilometer fliegend zurück, wobei sie auch im Flug schlafen. In einem Tag können sie bis zu 1000 Kilometer zurücklegen. Sie sind die schnellsten Horizontalflieger mit Geschwindigkeiten von über 110 Stundenkilometern (im Sturzflug sind andere schneller). Ihre Flugkünste sind schlicht atemberaubend.

Vögel transportieren mich geistig in eine andere Welt, entheben mich meines menschlichen, städtischen Alltags.

Und ja: Schon nur, wenn ich darüber schreibe, und umso mehr, wenn ich Vögeln zuschaue, erfüllt sich mein Herz mit aufgeregter Freude. So unbehaglich mir diese schwülstige Ausdrucksweise auch ist, anders kann ich das Gefühl in mir nicht beschreiben. Vögel faszinieren mich mit ihren schillernden Farben, ihrem originellen Verhalten, ihrer Anpassungsfähigkeit, ihrem Gesang und mit ihren Superkräften: Sie bewegen sich im Wasser, in der Luft und an Land, trotzen widrigsten Bedingungen, finden ihren Weg ohne Google Maps, und vieles mehr! 

Vögel transportieren mich geistig in eine andere Welt, entheben mich meines menschlichen, städtischen Alltags und erzählen mir Geschichten von anderen Wirklichkeiten und fernen Ländern von Vielfalt und Grenzenlosigkeit. Sie erzählen mir vom Wunder der Schöpfung, von Freiheit und Gelassenheit. Und auch von Frieden, indem sie ihren Lebensraum in Symbiose mit anderen Tier- und Pflanzenarten teilen. Oder vom Vertrauen darauf, dass es mir an allem genügen wird, indem sie sich in den meisten Fällen einfach von dem ernähren, was sie in der Natur vorfinden. Also «nicht säen und doch ernten», wie es in der Bergpredigt (Matthäus 6, 26) beschrieben ist.

Die Medaille hat eine grausame Kehrseite

All dies heisst aber nicht, dass ich die traurigen Seiten des Vogellebens ausblende. Traurig nehme ich zur Kenntnis, dass die Vogelpopulation in Europa gemäss einer Studie von 2023 im Vergleich zu 1980 um einen Viertel zurückgegangen ist. Schuld sind vor allem die Menschen: Hauptsächlich die Intensivierung der Landwirtschaft mit Pestizideinsatz und Monokulturen – Stichwort Insektensterben – und die Abholzung von Wäldern, insbesondere solchen mit vielen Altbäumen, beraubt die Vögel ihrer Lebensgrundlagen. 

Tipps für Einsteiger und Einsteigerinnen in die Vogelkunde

Kaufen Sie sich einen Feldstecher (meine Empfehlung: das beste Preis-Leistungsverhältnis für Einsteiger und Einsteigerinnen hat der Nikon Prostaff P3 oder P7 10x30). Viel Wissenswertes rund um die Schweizer Vogelwelt finden Sie auf der Website der Vogelwarte Sempach. Die App Vogelführer Birdlife Schweiz (für Android und iOS) hilft vor allem beim optischen Erkennen von Vögeln. Mit der App BirdNET kann man Vogelstimmen aufnehmen und bestimmen lassen (für Android und iOS). Der Kosmos Vogelführer ist der Klassiker unter den Vogelführern. Wer einen Führer nur für die Schweiz möchte, dem empfiehlt sich das Buch «Vogelarten der Schweiz» vom Haupt Verlag. Wer sich Vögeln lieber literarisch nähert, dem sei das Buch von Johanne Romberg «Federnlesen. Vom Glück, Vögel zu beobachten» vom Lübbe Verlag empfohlen.

Menschen tun Vögeln auch sonst viel Grausames an. Geschätzte 25 Millionen Zugvögel werden jährlich durch illegale Jagd im Mittelmeerraum (Studie von 2022) getötet. Vögel sterben als Beifang in der Fischerei, durch Kollision mit Windrädern, verglasten Gebäuden, Stromkabeln oder Autos.

Zudem kann ein Vogelleben auch – aus Menschensicht – einfach so grausam sein: Beispielsweise töten Kukucksküken die Küken ihrer Wirtsvögel, um selber alle Nahrung für sich zu bekommen. Wiedehopfe nutzen das jüngste Küken oft als Nahrungsvorrat für dessen ältere Geschwister. Raubvögel jagen kleinere Vogelarten und andere Tiere.

Doch in all dem Schrecklichen lässt sich auch Trost finden: Böses, Schlechtes, Trauriges existiert nun mal, bei allen Lebewesen. Mich zumindest entlastet dieser Gedanke oft in schwierigen Situationen, in denen ich mich frage, warum ausgerechnet ich leiden muss. Er verbindet mich mit meinen Mitgeschöpfen, die meine Erfahrung teilen.

Neben der grossen Freude über die Vielfalt der Natur direkt vor meiner Bürotür, helfen mir die Vögel – und auch die Betrachtung anderer nichtmenschlicher Lebewesen – also auch bei den grossen Fragen des Lebens. Sie zu beobachten, wie sie im Flug geschickt nach Insekten jagen oder miteinander spielen, aufopferungsvoll ihre Jungen füttern, oder ihr buntes Federkleid zu betrachten, ihre Stimmen zu hören, sie zu erkennen (Siehe Box), eröffnet mir weiten gedanklichen Raum zu Selbstreflexion, Selbsterkenntnis und Daseinsfreude.