Kuh am Stadtrand

Seelentankstelle

Auf der einen Seite der Schlossstrasse in Bern fahren Trams und Autos, auf der anderen grasen Kühe. Die kleine Herde entschleunigt das urbane Quartier.

Mein Arbeitsweg führt aus der Agglomeration Bern ins Herz der Altstadt. Auf dem E-Bike fahre ich jeweils der Schlossstrasse entlang, auf der zwei Tramlinien verkehren, Busse, Autos und andere Fahrräder. Der Veloweg führt durch urbane Quartiere mit Wohnblocks, Grossverteilern, Kebap-Shops, Cafébars. Auch die Geräuschkulisse ist städtisch: Ein Lieferwagenfahrer hupt, ein Rettungshelikopter rattert zum nahen Inselspital, das YB-Tram saust quietschend an mir vorbei.

Und jeden Morgen, kurz vor dem Loryplatz, tauche ich für einen kurzen Moment in eine andere Welt ein. Sobald auf der rechten Seite die Schrebergärten in Sicht kommen, höre ich es: das Bimmeln von Glocken. Auf der Wiese unterhalb des Schlosses Holligen grast eine kleine Kuhherde und entschleunigt die Stadt. Die Tiere bewegen sich gemächlich über die Weide, rupfen das taufeuchte Gras ab und lassen sich auch nicht stören, wenn ich manchmal einen kurzen Boxenstopp einlege.

Wir präsentieren: Seelentankstellen

Wir alle kennen Orte, an denen wir im Alltag kurz innehalten und neue Energie schöpfen können. Oder Tätigkeiten, die uns beruhigen, erden und mit neuem Schwung weitermachen lassen. Die Berner Redaktionsmitglieder von «reformiert.» erzählen in dieser herbstlichen Serie von ihren persönlichen Seelentankstellen. Lassen Sie sich überraschen oder inspirieren! Weitere Beiträge finden Sie unten verlinkt.

Ich mag Kühe. Sie haben sanfte Augen, sind oft neugierig, und ich finde, dass sie gut riechen. Muss ich beim Wandern eine Weide überqueren, grüsse ich die Kühe freundlich und lasse sie in Frieden. So habe ich noch nie schlechte Erfahrungen gemacht, nicht einmal, wenn Kälber mit dabei waren. Ein wenig mulmig wird mir höchstens, wenn der Stier seine «Mädels» bewacht. Das Geläute von Glocken beruhigt mich und lässt mich friedlich schlafen – ob nun Kuh- oder Kirchenglocken bimmeln.

Jeden Tag freue ich mich deshalb über die Stadtkühe in Holligen. Sie sind zu fünft, gescheckt und ich glaube eher jung – aber ich bin Kuh-Freundin, keine Expertin. 

Weil diese Kuhweide für mich eine Seelentankstelle ist, wollte ich natürlich Fotos davon machen. Dabei habe ich einen echten Mani-Matter-Moment erlebt. Denn ausgerechnet an dem Morgen, an dem ich anhielt und das Smartphone zückte, waren die Kühe weg. Sozusagen aus dem Bild gelaufen, wie Matters berühmte «Chue am Waldrand».

Ich fürchtete schon um das Wohlergehen meiner lieben Weggefährtinnen. Überlegte, ob sie vielleicht in der nahen Quartiermetzgerei gelandet sein könnten. Fand meinen Arbeitsweg etwas weniger schön und war betrübt. Zwei Tage später waren sie wieder da, und ich konnte sie doch noch fotografisch festhalten: meine Stadtkühe.