Recherche 31. Juli 2024, von Hans Herrmann

«Philosophie ist eine Kulturtechnik wie Lesen und Schreiben»

Seelsorge

Philosophische Gespräche können Balsam für die Seele sein. Deshalb arbeitet der Philosoph Omar Ibrahim daran, sein Fach für die professionelle Seelsorge nutzbar zu machen.

Philosophie gilt bei manchen Leuten immer noch als sehr intellektuelle Disziplin. Hat sie trotz allem auch einen Bezug zu durchschnittlich gebildeten Menschen?

Omar Ibrahim: Ja, unbedingt. Philosophie ist eine elementare Kulturtechnik wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Es geht vorerst nicht um die grossen philosophischen Theorien und Gedankengebäude, die zum Teil tatsächlich schwer zugänglich sind. Sondern darum, in eine Art Sprachspiel einzutreten, das darin besteht, Gründe für das eigene Tun und Lassen vorzulegen und zusammen mit anderen darüber zu debattieren. Philosophie ist eine grundlegende Fertigkeit des Umgangs miteinander.

Auf eine Kurzformel gebracht: Rede und Gegenrede?

Genau. Und damit ist nicht einfach ein inhaltleeres Hin und Her gemeint, der Begriff enthält auch eine gewisse Strenge. Es geht um Gründe, Begründungen, Argumente. Und darum, für diesen argumentativen Vorgang ein Gespür zu entwickeln. Das ist nicht akademisch, sondern allgemein zugänglich. So, wie es die Philosophie ursprünglich auch beabsichtigte.

In der Tat erfährt die Philosophie in der Öffentlichkeit gerade eine Renaissance. Die Bücher zum Beispiel von Svenja Flasspöhler oder Richard David Precht sind Bestseller. Woher kommt dieses neu erwachte Interesse?

In Frankreich hatten die Philosophinnen und Philosophen schon immer den Status von Popstars. Ihre Meinung gehörte und gehört im öffentlichen Diskurs ganz selbstverständlich dazu. In Deutschland hingegen ist diese Disziplin in der Zeit des Dritten Reiches verödet, viele namhafte Intellektuelle emigrierten. Somit musste sich die Philosophie nach dem Krieg ihren Platz erst wieder erobern. Gerade in der heutigen komplexen Zeit ist es ein Grundbedürfnis vieler Menschen, sich zusammen mit Philosophinnen und Philosophen auf die Suche nach Erklärungen und Antworten zu machen.

Die heutige Zeit betont das Rationale, auch die Philosophie tut es. Nimmt sie dabei gewissermassen die Stelle einer neuen, zeitgemässen Religion ein?

Die Vorstellung, dass die Haupttriebfeder der Philosophie die reine Vernunft sei, ist einseitig. Natürlich spielen Vernunft und Logik in der Philosophie eine wichtige Rolle. Am Anfang jedoch steht das Staunen: Die Philosophie ist der Urgrund des Staunens. Und sie ist eine Möglichkeit, diesem Staunen, dieser Neugier Ausdruck zu verleihen, diskursiv und frei von Dogmen, also religiösen Glaubenssätzen. Sie ersetzt somit weder die Religion noch die empirischen Wissenschaften. Letztere sind es, die für sich in Anspruch nehmen, die Welt rationalistisch zu erklären, die Philosophie hingegen ist ihr kritisch hinterfragendes Gegenüber.

Die Philosophie ist der Urgrund des Staunens. Und sie ist eine Möglichkeit, diesem Staunen, Ausdruck zu geben, diskursiv und frei von Dogmen.
Omar Ibrahim, Philosoph

Sie sind der Ansicht, dass sich Philosophie auch seelsorglich nutzen lasse, und entwickeln den neuen CAS-Studiengang Philosophical Care. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

Aus drei Gründen. Erstens: Die Frage, wie ich mich um die eigene Seele kümmere und was dabei genau passiert, kommt schon bei den altgriechischen Philosophen Sokrates und Plato vor. Das ist vom frühen Christentum im Zusammenhang mit religiöser Seelsorge dankbar aufgegriffen worden. Zweitens: Mir selber hilft Philosophie in vielen Lebenslagen sehr. Und drittens: Auch andere Menschen empfinden ein Gespräch auf philosophischer Basis oft als heilsam.

Worüber wird mit einem philosophisch nicht geschulten Menschen philosophisch gesprochen?

Grundsätzlich über alles. Soll das Gespräch aber einen seelsorglichen Aspekt haben, gilt es, achtsam etwa auf Leitmotive zu achten. Sagt jemand zum Beispiel, dass etwas sehr «unglücklich» gelaufen sei, kann es Sinn machen zu fragen: «Was bedeutet für dich Glück?» Diese Frage führt im Verlauf des weiteren Gesprächs vielleicht zu Antworten, die der betreffenden Person helfen.

Text von Omar Ibrahim zu Philosophical Care

Philosophie als eine mögliche Form der Seelsorge?
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Wie ist der Studiengang Philosophical Care konzipiert, und wann wird er erstmals angeboten?

Das dauert noch ein paar Jahre. Nun gilt es, die Module zu erarbeiten und mit Lerninhalten zu füllen, zum Beispiel dem Aneignen von Techniken in Gesprächsführung. Auch Praktika und Supervisionen müssen konzipiert und organisiert werden. Grundsätzlich richtet sich die Weiterbildung an Leute mit einem Theologie- oder einem Philosophiestudium, denkbar sind auch Teilnehmende mit einer medizinisch-therapeutischen Ausbildung. Die Zulassungsbedingungen sind noch nicht abschliessend definiert.

Hat die klassische kirchliche Seelsorge gegenüber Philosophical Care ein Manko, einen blinden Fleck?

Von einem blinden Fleck würde ich nicht sprechen. Im Zuge der Professionalisierung der christlichen Seelsorge in den letzten hundert Jahren hat die Literatur das Hauptgewicht aber vor allem auf psychotherapeutische Ansätze gelegt. Philosophie kam nur als Randnotiz vor. Ich will das Potenzial der Philosophie nun als vollwertigen Teil in das Gesamtpaket der Seelsorge einbinden. Philosophical Care ist nicht an eine institutionalisierte Gemeinschaft gebunden – zum Beispiel an die Kirche – und kennt auch keine tradierten Rituale. Weil sie also kein theologisches Weltbild vermittelt, eignet sie sich insbesondere auch für die interkonfessionelle, interreligiöse und agnostische Seelsorge und funktioniert auch als eigenständiger Ansatz.

Wie kann man sich eine Seelsorge-Sitzung nach den Grundsätzen von Philosophical Care vorstellen?

Zunächst: Die oder der Seelsorgende hat keinen therapeutischen Auftrag. Ein solches Gespräch kann therapeutische Inhalte haben, soll sich aber nicht auf das reduzieren lassen. Ich bin auch kein Berater, kein Coach im klassischen Sinn. Eher ein Reisebegleiter auf dem Weg zu Fragen und Antworten, welche die Leute in ihrer jeweiligen Lebenssituation gerade beschäftigen. Das bedeutet nicht, die Leute zur Philosophie zu zwingen. Es bedeutet eine offene Haltung, die etwa auch einen Spaziergang im Garten beinhalten kann. Manchmal bringt das mehr als ein ausführliches Gespräch. Und manchmal ist tatsächlich das Gespräch das Mittel der Wahl.

Omar Ibrahim, 32

Er hat Philosophie und Sozialanthropologie studiert und macht nebenbei eine Ausbildung in Spital- und Klinikseelsorge. Derzeit schliesst er an der Theologischen Fakultät Bern seine Promotion ab, einen zweiten Doktortitel macht er in der Erziehungswissenschaft. Sein neues Konzept von Philosophical Care hat schweizweit und im nahen Ausland in Fachkreisen bereits Interesse geweckt.