Philosophie gilt bei manchen Leuten immer noch als sehr intellektuelle Disziplin. Hat sie trotz allem auch einen Bezug zu durchschnittlich gebildeten Menschen?
Omar Ibrahim: Ja, unbedingt. Philosophie ist eine elementare Kulturtechnik wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Es geht vorerst nicht um die grossen philosophischen Theorien und Gedankengebäude, die zum Teil tatsächlich schwer zugänglich sind. Sondern darum, in eine Art Sprachspiel einzutreten, das darin besteht, Gründe für das eigene Tun und Lassen vorzulegen und zusammen mit anderen darüber zu debattieren. Philosophie ist eine grundlegende Fertigkeit des Umgangs miteinander.
Auf eine Kurzformel gebracht: Rede und Gegenrede?
Genau. Und damit ist nicht einfach ein inhaltleeres Hin und Her gemeint, der Begriff enthält auch eine gewisse Strenge. Es geht um Gründe, Begründungen, Argumente. Und darum, für diesen argumentativen Vorgang ein Gespür zu entwickeln. Das ist nicht akademisch, sondern allgemein zugänglich. So, wie es die Philosophie ursprünglich auch beabsichtigte.
In der Tat erfährt die Philosophie in der Öffentlichkeit gerade eine Renaissance. Die Bücher zum Beispiel von Svenja Flasspöhler oder Richard David Precht sind Bestseller. Woher kommt dieses neu erwachte Interesse?
In Frankreich hatten die Philosophinnen und Philosophen schon immer den Status von Popstars. Ihre Meinung gehörte und gehört im öffentlichen Diskurs ganz selbstverständlich dazu. In Deutschland hingegen ist diese Disziplin in der Zeit des Dritten Reiches verödet, viele namhafte Intellektuelle emigrierten. Somit musste sich die Philosophie nach dem Krieg ihren Platz erst wieder erobern. Gerade in der heutigen komplexen Zeit ist es ein Grundbedürfnis vieler Menschen, sich zusammen mit Philosophinnen und Philosophen auf die Suche nach Erklärungen und Antworten zu machen.
Die heutige Zeit betont das Rationale, auch die Philosophie tut es. Nimmt sie dabei gewissermassen die Stelle einer neuen, zeitgemässen Religion ein?
Die Vorstellung, dass die Haupttriebfeder der Philosophie die reine Vernunft sei, ist einseitig. Natürlich spielen Vernunft und Logik in der Philosophie eine wichtige Rolle. Am Anfang jedoch steht das Staunen: Die Philosophie ist der Urgrund des Staunens. Und sie ist eine Möglichkeit, diesem Staunen, dieser Neugier Ausdruck zu verleihen, diskursiv und frei von Dogmen, also religiösen Glaubenssätzen. Sie ersetzt somit weder die Religion noch die empirischen Wissenschaften. Letztere sind es, die für sich in Anspruch nehmen, die Welt rationalistisch zu erklären, die Philosophie hingegen ist ihr kritisch hinterfragendes Gegenüber.