«Putin hat den Menschen keine Zukunft anzubieten»

Politik

Russland-Experte Jens Siegert nimmt in seinem neuen Buch die Zukunft des Landes nach Wladimir Putin in den Blick. Die weitere Unterstützung der Ukraine hält er für unabdingbar. 

Seit bald drei Jahren führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Wie präsent ist der Krieg in Ihrem Alltag?
Jens Siegert: Auf den ersten Blick hat sich in Moskau nicht viel geändert. Es ist eine Stadt mit allen Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten, wie sie auch andere europäische Städte haben. Aber der Krieg drückt den Menschen auf die Stimmung. Er wird meist nicht direkt angesprochen, aber immer wieder ist die Rede von «schwierigen Zeiten». Und viele meiner Freunde und Bekannten haben das Land verlassen, weil sie es nicht mehr ertragen konnten oder ihre Sicherheit nicht mehr gewährleistet war.

Wie schätzen Sie Ihre Sicherheitslage ein?
Natürlich habe ich mir schon nach Kriegsbeginn darüber Gedanken gemacht. Ich kam zum Schluss, dass ich im schlimmsten Fall rausgeworfen würde. Aber die Lage muss man immer wieder neu beurteilen.

Insbesondere nach dem Gefangenenaustausch, bei dem neben Oppositionellen auch der US-Journalist Evan Gershkovich zum Faustpfand wurde. Könnte das Russland dazu verleiten, vermehrt Ausländer als Geiseln zu nehmen?
Diese Frage stellen sich viele Ausländer in Russland. Wobei bei dem Austausch Freunde von mir freikamen, etwa Oleg Orlow, Mitbegründer der Menschenrechtsorganisation Memorial. Ich habe mich sehr für ihn und die anderen gefreut. 

In Moskau daheim

In Moskau daheim

Der Politologe und Publizist leitete über Jahre das Russland-Büro der Heinrich-
Böll-Stiftung und lebt seit 1993 in Moskau. Er beriet auch den Vorstand der mittlerweile aufgelösten Menschenrechtsorganisation
Memorial und unterstützt die Akti
visten weiter im Exil. 

(Foto: Zukunft Memorial. e.V./Darija Krotowa)

Jens Siegert: Wohin treibt Russland?  Szenarien für die Zeit danach. Hirzel, 2024

In Ihrem Buch «Wohin treibt Russland?» beschäftigen Sie sich intensiv mit der Zeit nach Putin. Nach einem Machtwechsel sieht es jedoch nicht aus. Warum das Thema?
Anlass war die Diskussion im Westen. Mir scheint zunehmend, den Ländern fehlt die Ausdauer, Russland in die Schranken zu weisen. Zugleich wird das Land von vielen als hoffnungsloser Fall mit Blick auf die Demokratie angesehen. Doch wir sollten die Möglichkeit eines demokratischen Russlands nicht komplett ausschliessen. Ich glaube, ein demokratisches, freieres Russland wäre friedlicher als das autoritäre Russland, das wir jetzt haben. Und anders als nach dem Ende der Sowjetunion sollten wir diesmal auf diese Möglichkeit vorbereitet sein.

Es mehren sich Stimmen, die  nach Friedensverhandlungen rufen.  Was ist Ihre Antwort?
Putin will ja gar nicht verhandeln, er sagt das klipp und klar. Ausserdem sind Gesprächskanäle im Hintergrund weiter offen. Vielleicht muss man das deutlicher machen: Zur Friedenskonferenz in der Schweiz hätte Russland eingeladen werden sollen, dann wäre der Kreml zu einer öffentlichen Absage gezwungen gewesen. Jetzt muss der Westen diesen Krieg durchstehen, damit es danach besser werden kann. 

Wer mit Putin Kompromisse schliesst, erhält nur eine Atempause vor dem nächsten Schlag.

Wie wichtig ist, dass Putin  diesen Krieg im eigenen Land nicht als Sieg verkaufen kann?
Ganz entscheidend. Putin funktioniert seit Jahrzehnten immer gleich. Er schlägt zu und schaut, was rauskommt. Dann macht er einen Kompromiss. Dabei kommt der Gegner schlechter weg als zuvor, atmet jedoch auf. Aber der Kompromiss ist nur eine Atempause vor dem nächsten Schlag. Russland könnte also zur Gefahr für weitere Länder werden.

Jüngst hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski einen «Siegesplan» vorgelegt, der eine weitere Bewaffnung der Ukraine und  die Nato-Mitgliedschaft beinhaltet. Wie bewerten Sie das?
Als realistisch. Zu Beginn des Konflikts hätte ich nicht gedacht, dass eine Nato-Mitgliedschaft nötig wird. Doch inzwischen scheint sie mir die einzige Sicherheitsgarantie für die Ukraine zu sein, die Russland in die Schranken weisen dürfte.

Auch Russland verliert Zehntausende Soldaten in diesem Krieg.  Spüren Sie gar keine Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung?
Der Kreml gibt keine Zahlen heraus. Propaganda und Zensur unterdrücken das Thema. Mit dem Tod setzen sich fast nur die betroffenen Familien auseinander. Gleichzeitig herrscht in der Bevölkerung das Gefühl vor, man könne ja eh nichts gegen diesen Krieg tun. Zudem verfängt Putins Erzählung, dass nicht Russland diesen Krieg begonnen habe und es sich um einen Verteidigungskrieg handle. In diesem Narrativ sind auch die Ukrainer Opfer, denn Putin zufolge werden sie vom Westen instrumentalisiert. So wird alle Schuld beim Westen abgeladen. 

Im Moment beherrscht Putin das Feld. Aber sobald das Gefüge Risse bekommt, wird eine Konkurrenz zur Stelle sein.

Wandel in totalitären Staaten geht oft von der Opposition aus. Doch ein Grossteil der Opposition ist im Ausland. Mindert das nicht deut-lich die Chancen auf Demokratie?
Fast immer sind diejenigen, die Wandel bringen, in der Minderheit. Diese Minderheit gibt den Anstoss und zieht dann die Mehrheit mit. Laut Erhebungen des Lewada-Zentrums sind in Russland 20 Prozent ideologische Befürworter des Krieges, etwa genauso viele sind Gegner, und dann gibt es die Masse in der Mitte. Im Moment beherrscht Putin das Feld. Aber sobald das Gefüge Risse bekommt, wird eine Konkurrenz zur Stelle sein. Vielleicht sind das dann Oppositionelle, vielleicht aber auch Stimmen, die zwar aus dem Apparat selbst kommen, diesen Krieg jedoch für falsch halten.

Wie wichtig ist die russisch-orthodoxe Kirche für Putin?
Sie dient in den Augen vieler als Legitimierung seiner Herrschaft. Interessant ist, dass etwa 70 Prozent der Russen sagen, dass sie gläubige orthodoxe Christen sind.

Eine beeindruckende Zahl.
Ja, aber sie korreliert mit der Zahl ethnischer Russen. Die russisch-orthodoxe Kirche ist eine Nationalkirche, eng und stark mit dem Staat verbunden. Es gehört zum guten Ton als Regimeanhänger, gläubig zu sein. Dennoch gehen nur etwa zwei Prozent der Menschen regelmässig zur Kirche. Früher gab es die kommunistische Idee, nun gibt es die orthodoxe Idee. Die Menschen müssen an irgendetwas glauben. Putin hat keine Zukunft anzubieten, er bietet nur eine Vergangenheit an, sprich das mächtige Reich, das Russland einst war. Der christliche Glaube dagegen ist auf die Zukunft gerichtet, auf die Unsterblichkeit der Seele.

Die Kirche ist ein Symbol für das Land insgesamt. Besteht das Land, wird auch die Kirche bestehen.

Patriarch Kyrill I. hat sich klar auf Putins Seite gestellt, er unterstützt den Krieg. Gibt es auch eine religiös geprägte Opposition?
Es gab und gibt noch immer mal wieder Priester, die sich gegen den Krieg äussern. Viele von ihnen dürfen nun nicht mehr arbeiten, teilweise wurden sie strafrechtlich verfolgt. In der Orthodoxie spielt die Predigt nicht die gleiche Rolle wie im Protestantismus. Dennoch lässt sich immer wieder auch hier zwischen den Zeilen lesen, selbst heute noch.

Wird eine regimetreue Kirche auch in einem demokratischen Land noch eine Rolle spielen können?
Das glaube ich schon, denn sie ist nicht abhängig vom Personal, sie ist ein Symbol für das Land insgesamt. Besteht das Land, wird auch die Kirche bestehen. Es geht den meisten weniger um den Glauben, sondern um andere Funktionen. Spendet man für die Kirche, tut man etwas Gutes, man erhält etwa architektonisches Kulturgut. Und vielleicht tut man ja doch etwas für die Seelenrettung, man weiss ja nie.

Insgesamt zeichnen Sie ein düsteres Bild. Was macht Ihnen Mut?
Nur sehr wenig. Am ehesten die tiefe Menschlichkeit, die ich noch immer spüre, auch bei Leuten, die nicht der Opposition angehören.

Und woran zeigt sie sich?
Vor einem Jahr waren wir bei Verwandten im Altai an der Grenze zur Mongolei, Kasachstan und China. Beim Essen erhob jemand das Glas Wodka und sagte, er wolle darauf trinken, dass die russischen Jungs im Krieg wohlbehalten heimkommen. In Russland kann man einen Toast ergänzen. Also erhob ich mein Glas und sagte, ich wolle auch auf die unversehrte Rückkehr der ukrainischen Soldaten trinken. Da gab es einen kurzen Moment der Stille, dann ein allgemeines «Ja, natürlich!». Die Vorstellung, der Krieg werde von einem blutrünstigen Volk geführt, ist weitgehend falsch. Kaum jemand will diesen Krieg. Und das macht mir trotz allem ein bisschen Hoffnung.