Gott bleibt, alles andere ändert sich

Kirche

Reformen sind nicht mehr Kür, sondern Pflicht. Die Reformierte Kirche Aargau spürt den Handlungsdruck und beginnt neue Wege zu erproben, mit wachsender Offenheit.

Der 4. Juni war ein regenreicher Tag, mit angekündigten Gewittern. Mit Regenschirm und Spannung liefen die Mitglieder der reformierten Kirchensynode am Morgen ins Grossratsgebäude in Aarau. 

Die Metapher «Die Kirche steht im Regen» passte gut zum Stand der Dinge. Denn was die Parlamentarier an ihrer ganztägigen Marathon-Sitzung alles diskutieren mussten, zeigte eindrücklich: Der Mitgliederschwund verlangt der Aargauer Kirche einen tiefgreifenden Umbau ab. Während sie sich dem vor zehn Jahren lancierten Reformprozess lange nur zögerlich anschliessen mochte, stellt sie sich heute dem rasch gestiegenen Druck zum Handeln. 

Trübes Wetter, trübe Bilanz 

Der Jahresbericht 2024 zeigt klar die vielen Tiefdruckgebiete. Wegen mangelnder Nachfrage wurde der Religionsunterricht an den Kantonsschulen eingestellt. Und auch an den Primar-, Sek- und Bezirksschulen verliert die Kirche stetig an Boden. Der Unterricht wird in die Randzeiten abgedrängt und «buchstäblich in die Besenkammer abgeschoben», sagte Kirchenrätin Barbara Stüssi-Lauterburg an der Sitzung. 

Und am anderen Ende des Lebensbogens sieht es nicht besser aus. Die Anzahl kirchlicher Abdankungen ist gegenüber dem Vorjahr um ein Drittel zurückgegangen. Auch Hochzeiten, Taufen und Konfirmationen sind immer weniger gefragt. Hinzu kommen strukturelle und personelle Probleme: Mangels Nachwuchs schliesst die Schule für Kirchenmusik Ende Jahr. Eine Kirchgemeinde geriet 2024 überraschend schnell in finanzielle Not und ist auf die Hilfe der Landeskirche angewiesen. Und der vermeintliche Lichtblick in der Jahresrechnung, ein bescheidener Gewinn von rund 47 000 Franken, ist ebenfalls einer Negativentwicklung geschuldet: zahlreichen unbesetzten Pfarrstellen. 

Der Druck der Veränderungen liegt schwer auf uns. Darin liegen aber auch Chancen.
Christoph Weber-Berg

Kirchenratspräsident Christoph Weber-Berg brachte es in seiner Eröffnungsrede auf den Punkt: Die Beruhigungspille «Es geht noch» wirkt nicht mehr. «Damit das Gemeindeleben vor Ort nicht unter die Räder kommt, müssen wir heute die Weichen stellen», mahnte er. Doch Weber-Berg ist überzeugt, dass Not erfinderisch macht. Das sagte er auch in seinem Schlusswort, als die Synode Lösungen für die vielen Baustellen verabschiedet hatte: «Der Druck der Veränderungen liegt schwer auf uns. Darin liegen aber auch Chancen. Lasst uns nicht den Niedergang verwalten, bleiben wir in Bewegung.» 

Aus der Not eine Tugend 

Dieser Ausdruck eines konstruktiven Pessimismus macht denn trotz allem ein grosses Fest am 14. September möglich. Unter dem Motto «Wie im Himmel, so im Aargau» feiert die Kirche die Reform. Angestossen wird nicht auf den fertigen Umbau, sondern auf den Wandel. 

Den hohen Reformdruck veranschaulichte die Traktandenliste. Was viele der Anwesenden überraschte: Das Wort «Fusion», das die altherge-brachte «Kirche im Dorf» infrage gestellt, löste überhaupt keine Debatte aus. Im November hatte Lutz Fischer, Präsident der Synode, angeregt, alle Aargauer Kirchgemeinden zu einer einzigen zusammenzuführen – ein Vorschlag mit weitreichenden Folgen für das Selbstverständnis der Kirche. Das Gedankenspiel beunruhigte die Traditionalisten allerdings wenig, hatte der Kirchenrat doch das Motto «Fusionen fördern statt fordern» ausgegeben. Die Synode bewilligte denn einstimmig einen Fonds, der Fusionswillige bei der Klärung von Finanzen, Immobilien und Personalien unterstützt. 

Fusion ist das neue Normal 

Dass heute offen über Zusammenschlüsse gesprochen wird, markiert im Reformprozess eine Wende. Bis vor drei Jahren waren sie weitgehend tabu. Im Nachgespräch zur Synode sagt Marc Zöllner, Leiter Gemeindeentwicklung der Landeskirche: «Die meisten haben erkannt, dass viele unserer Probleme in zu kleinzelligen Strukturen gründen. Für solche haben wir keine Mittel mehr.» Die drohende Zahlungsunfähigkeit der Kirchgemeinde Murgenthal und Fischers Idee einer Megafusion hätten den Handlungsdruck spürbar erhöht. Und grössere Einheiten lösten nicht nur strukturelle Probleme, sie eröffneten auch neue Perspektiven: mehr Angebote, verschiedene Frömmigkeitsstile und theologische Profile. Damit würde eine moderne Kirche der pluralistischen Gesellschaft Rechnung tragen. «Kleinere Veränderungen haben wir umgesetzt. Jetzt geht es um die grossen.»

Kleinere Veränderungen haben wir umgesetzt. Jetzt geht es um die grossen
Marc Zöllner, Leiter Gemeindeentwicklung

Ganz in diesem Sinn öffnete das Parlament dann auch ein weiteres Instrument: Sie beschloss die Flexibilisierung des Experimentierartikels mit bloss zwei Gegenstimmen. Künftig können damit nicht mehr ausschliesslich Kirchgemeindeversammlungen, sondern alle, die eine Reformidee haben, Gesuche für Experimente einreichen. Damit lassen sich innovative Projekte realisieren, welche die Reform aus der Breite der Kirche heraus mitgestalten. 

Sparen, stiften, Experimente 

Bei all den Weichenstellungen blieb die finanzielle Wirklichkeit nicht ausgeklammert. Der jetzige Finanzplan 2025–2028 sieht jährlich Einsparungen von 250 000 Franken vor. Damit vor allem kleinere Kirchgemeinden nicht vom Ballast erdrückt werden, denkmalgeschützte Gebäude zu erhalten, beschloss die Synode die Gründung einer Stiftung für ebensolche Gebäude.  

Der grosse Wurf zur Lösung des Dauerbrenners «Pfarrmangel» blieb aus, doch immerhin wurde das Personalgesetz angepasst. Neu können Pfarrpersonen auch nach dem Pensionsalter gewählt werden und bis 70 im Amt bleiben, ebenso Sozialdiakoninnen und -diakone. Die entscheidende Debatte steht allerdings noch bevor. Dann, wenn es um den «Notfallplan P» geht, der vorsieht, theologisch affine Akademikerinnen und Akademiker ab 55 Jahren in einem neuen Kurzlehrgang fürs Pfarramt auszubilden. Dieser könnte das Problem der vakanten Pfarrstellen vermutlich entschärfen. 

Ein ermutigendes Zeichen für die Zukunft setzten die Synodalen gleich zu Beginn: Martin Richner gestaltete als erster Laie den Gottesdienst und stiess damit auf positive Resonanz – vielleicht ist es ein gutes Omen, dass theologisch ambitionierte Laien dem alten reformatorischen Ideal, dem Priestertum aller Gläubigen, neues Leben einhauchen können.