Politik 28. März 2024, von Cornelia Krause

«In Haiti fehlen demokratisch legitimierte Autoritäten»

Ausland

Haiti versinkt in Chaos und Bandengewalt. Lateinamerika-Experte Günther Maihold hält eine Eingreiftruppe unter UN-Mandat für nötig, um die Odnung wiederherzustellen.

Haiti gilt als Staat im Dauerkrisenmodus. Was unterscheidet die jetzige Situation von vorherigen?
Tatsächlich hat das Land mit chronisch auftretenden Krisen zu tun, es gab dort Erdbeben, Überschwemmungen, Dürre. Sowie zahlreiche politische Verwerfungen wie die Ermordung des Präsidenten Jovenel Moise. Nun haben wir aber den Sonderfall, dass es überhaupt keine demokratisch legitimierten Autoritäten mehr gibt, dass wir es mit einem offenen Staatszerfall zu tun haben. Gleichzeitig zögert die internationale Gemeinschaft, sich einzuschalten. Denn ihr Ruf als Retter ist seit der letzten Blauhelmmission angeschlagen. Einigen Soldaten wurde sexueller Missbrauch vorgeworfen, andere schleppten aus Nepal die Cholera ein.   

Wie konnte es zu diesem Staatsversagen kommen?
Das war ein längerer Weg. Verschiedene Machthaber verhinderten demokratische Wahlen mit Verweis auf die prekäre Sicherheitslage. Es fehlte also an gewählten Abgeordneten und auch an Richtern. Auf Druck westlicher Botschafter installierte man nach der Ermordung des Präsidenten den designierten Premierminister Ariel Henry als Interimspremier. 

Henry sollte Wahlen abhalten.
Was er aber nicht tat. Nachdem die Bandengewalt eskalierte und er von einer Auslandsreise wegen der Gewalt nicht zurückkehren konnte, erklärte er im März seinen Rücktritt. De facto herrschen nun die bewaffneten Banden. Sie kontrollieren die Häfen, Flughäfen, blockieren wichtige Versorgungsstrassen.

Eine robuste Intervention ist Voraussetzung dafür, überhaupt die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen.


Kann das Land die Situation alleine in den Griff bekommen?
Haitis Armee wurde abgeschafft, aus Angst, sie könne putschen. Deshalb muss eigentlich die Polizei für Ordnung sorgen, sie ist aufgerüstet, ähnlich wie die italienischen Carabinieri. Dennoch ist sie der Bandengewalt nicht gewachsen. Insofern sehe ich keine interne Lösung. 

Das heisst?
Es wird eine robuste Intervention nötig sein, sprich ein Eingreifen von aussen unter einem UN-Mandat. Das ist Voraussetzung dafür, überhaupt die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Nur so können auch Hilfsorganisationen ihre Arbeit machen, ohne Leib und Leben ihrer Mitarbeitenden zu riskieren. 

Verschiedene Staaten haben in Aussicht gestellt, Truppen zu schicken, zuletzt ging es um 1000 Soldaten aus Kenia. Wird das ausreichen?
Die Banden hatten sich zwischenzeitlich zusammengeschlossen, um die Rückkehr von Henry zu verhindern. Nun ist ihnen das gelungen und ihre Allianz bröckelt wieder, die Gewalt nimmt zu. Die Mitglieder der rivalisierenden Gruppierungen sind in grossem Stil bewaffnet. Ich glaube kaum, dass 1000 Soldaten aus Kenia Erfolg haben werden. 

Die Zahl der Staaten, die sich engagieren wollen, dürfte eher gering sein.

Wie schätzen Sie das internationale Engagement für eine Eingreiftruppe ein?
Der Kontext ist nicht gerade günstig. Die Zahl der Staaten, die sich engagieren wollen, dürfte eher gering sein. In den USA ist Wahljahr. Zwar hat die Regierung Gelder zur Unterstützung zugesagt. Doch Präsident Joe Biden hat wohl kaum Interesse daran, sich den Konflikt ans Bein zu binden. Auch im Nachbarland, der Dominikanischen Republik, wird im Mai gewählt. Der Migrationsdruck aus Haiti ist gross, viele Kandidaten, werden wohl mit Abschottung Wahlkampf machen. Brasilien hatte während der letzten Blauhelmmission für Negativschlagzeilen gesorgt. Ein traditionell engagierter Akteur wäre noch Kanada, eventuell Mexiko. Aber wir sehen auch, dass es gegenwärtig schwierig ist, im UN-Sicherheitsrat einen Konsens herzustellen, insbesondere für einen Einsatz mit Interventionscharakter.

Auf politischer Ebene soll ein Übergangsrat gebildet werden, der sich auf einen vorläufigen Premierminister einigen und Wahlen organisieren soll. Ist dieser Ansatz erfolgsversprechend?
Es ist schwierig, es sind sehr viele verschiedene Interessen zu berücksichtigen. Auch die haitianische Diaspora, die im Ausland sitzt, hat Einfluss. Der Rebellenführer Jimmy Chérizier mit Spitznamen Barbecue, soll etwa mit ehemaligen Präsidenten verbandelt sein, die im Ausland sitzen und entsprechend einwirken. Derzeit kann das öffentliche Leben kaum gewährleistet werden, Wahlen wären ein fast unmögliches Unterfangen. Ich bin der Ansicht, es braucht zunächst eine Intervention, dann kann man sehen, ob hinreichender Freiraum für politisches Handeln möglich ist, oder ob man in eine Konstellation hineingerät, in der diese kriminellen Akteure weiterhin Einfluss besitzen. 

Günther Maihold studierte Soziologie und Politikwissenschaft und promovierte 1987 an der Universität Regensburg. Er lebte mehrere Jahre in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern und ist Professor für Politikwissenschaft am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin.