Politik 12. März 2024, von Cornelia Krause, Felix Reich

«Wir bleiben standhaft»

Antisemitismus

Die Attacke auf einen Juden war ein Angriff auf die friedliche Koexistenz, sagt Rabbiner Noam Hertig. Der Israelitische Gemeindebund warnt vor politischen Instrumentalisierungen.

Es hätte auch ihn treffen können. Kurz bevor ein 15-jähriger Jugendlicher am 2. März mitten in Zürich einen orthodoxen Juden mit einem Messer lebensgefährlich verletzte, war auch Noam Hertig mit seinen Kindern am Tatort vorbeigegangen. Wie immer trug er seine Kippa. «Ich war als Jude erkennbar und damit ein Angriffsziel», sagt der Rabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ).

Massive Erschütterung

Hertig sitzt in seinem Büro im Gemeindezentrum der ICZ, einem hellen Raum, die Wände vollgestellt mit Büchern. Er erzählt von der Unsicherheit, die seine Gemeinde erfasst hat. An den alltäglichen Antisemitismus, die Pöbeleien, die seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel nochmals zugenommen hätten, habe er sich beinahe gewöhnt. «Mit Angriffen auf Leib und Leben habe ich nicht gerechnet.»

Auch Jonathan Kreutner spricht im Interview mit «reformiert.» von einer «völlig neuen Dimension des Antisemitismus in der Schweiz». Der Historiker ist Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG). «Die Messerattacke erschüttert uns massiv.»

Beispiellose Häufung

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel und dem Gazakrieg wurden in der Schweiz mehr antisemitische Vorfälle registriert als je zuvor. In ihrem jährlichen Antisemitismusbericht schreiben der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) und die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitis­mus von einer «regelrechten Antisemitismuswelle». Beunruhigten in den letzten Jahren vor allem vermehrte judenfeindliche Äusserungen und Hetze im Internet, schreckt 2023 die Anzahl der Vorfälle in der realen Welt auf. 155 Fälle wurden bekannt, im Vorjahr waren es noch 57 gewesen. Über zwei Drittel ereigneten sich nach dem 7. Oktober.

«Eine derartige Häufung von Tätlich­keiten, Schmierereien, Beschimpfungen und Vorfällen an Demonstrationen innert so kurzer Zeit ist beispiellos», heisst es in einer Mitteilung. Zehn Übergriffe wurden registriert, im Vergleich zu einem im Jahr 2022. Verschärft haben sich auch die Inhalte von Schmierereien und Zuschriften, sie reichten von Todesdrohungen bis hin zu Vernichtungsfantasien.

Die Verfasser des Berichts gehen davon aus, dass die Lage im Nahen Osten unterschiedliche Gruppen zu antisemitischen Äusserungen, Taten oder Parolen veranlasste: sowohl rechts- und linksextreme Personen, pro-palästinensische wie auch solche aus der Mitte der Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk legt der Bericht auf die an pro-palästinensischen Demonstrationen skandierte Parole «From the river to the sea, Palestine will be free». Sie bedeute in Konsequenz ein Auslöschen Israels und komme einem Gewaltaufruf gleich.

Einen Tag nach der Tat versammelten sich zahlreiche Menschen zu einer Mahnwache. Auch Regierungsratspräsident Mario Fehr sowie die reformierte Kirchenratspräsidentin Esther Straub und der Churer Bischof Joseph Bonnemain nahmen teil. Das seien wichtige Zeichen, sagt Hertig. Es zeige ihm: «Ihr seid nicht allein, wir umarmen euch.»

Gewachsenes Vertrauen

Zudem zeigte sich, wie stabil der interreligiöse Dialog ist: «Die Wege zu Kirchen, Religionsgemeinschaften und Staat sind kurz», sagt Hertig. Das Vertrauen sei gewachsen. Auch der Imam Muris Begovic hat sich sofort gemeldet.

An der Mahnwache konnte Begovic nicht teilnehmen, da die Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich (Vioz) zur gleichen Zeit ihre Generalversammlung abhielt. Unmittelbar danach jedoch veröffentlichte sie eine Erklärung: «Nicht unserem Namen!» Darin verurteilt die Vioz die Attacke scharf und bekennt sich zu den «Grundsätzen des friedlichen Zusammenlebens». Die Stimmen des Hasses, des Krieges und der Gewalt seien sehr laut. «Deshalb muss und soll unsere Stimme lauter sein.»

Mutige Stellungnahme

Die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr lobt gegenüber «reformiert.» die «mutige, vorbildliche Stellungnahme». Damit exponiere sich die Vioz und nehme Hasszuschriften in Kauf. Auch für Kreutner ist die Erklärung «ein sehr deutliches Signal an die muslimische Gemeinschaft». Zugleich nimmt er die jüdischen Gemeinden in die Pflicht: «Wir dürfen nicht pauschalisieren und stigmatisieren.» Entschieden wehrt sich Kreutner gegen eine politische In­strumentalisierung der Attacke.

Fehr warnt eindringlich davor, das Problem an den Islam zu delegieren: «Mit einer Muslimisierung des Antisemitismus machen wir es uns zu einfach.» Antisemitismus sei ein urschweizerisches Problem, das sich in allen Schichten zeige. «Es ist letztlich wohl auch tief verankert im Gedankengut von uns allen, da sollte sich niemand etwas vormachen.» 

Präsent bleiben

Hertig betont, dass der Angriff zwar einen Juden getroffen habe. «Doch attackiert wurde unsere friedliche Koexistenz, die Zivilgesellschaft.» 

Und zuletzt sagt der Rabbiner: «Wir bleiben standhaft.» Die Tat habe zwar Spuren hinterlassen. «Doch wir denken deswegen jetzt nicht ans Auswandern und fahren unser jüdisches Leben auch nicht herunter.»