«Ein urschweizerisches Problem»

Antisemitismus

Regierungsrätin Jacqueline Fehr warnt davor, nach den Messerattacke von Zürich den Antisemitismus an den Islam zu delegieren. Sie ruft zu Wachsamkeit und Selbstkritik auf.

Die Messerattacke gegen einen Juden mitten in Zürich gilt als Zäsur. Für Sie auch?

Jacqueline Fehr: Für mich ist der Angriff ein schrecklicher Vorfall, den wir nicht isoliert betrachten sollten. Es gibt weitere Manifestationen von Gewalt und Drohungen. Deren Ursache ist eine Radikalisierung, die so stark ist, dass die Handlungsschwelle überschritten und Straftaten ausgeführt werden. Täter entwickeln dabei ein Weltbild, in dem es richtig und falsch gibt. Sie sehen ihren Auftrag darin, alles in ihren Augen Falsche auszumerzen, um «ihre» Ordnung wieder herzustellen. Der jüngste Angriff richtete sich gegen einen jüdischen Mitmenschen. Im weniger öffentlichen Bereich sind oft Frauen die Opfer, wenn Männer etwa durch Gewalt die Familienehre wiederherstellen wollen. Auch solche Verbrechen sind Ergebnis der Anmassung, selber über Recht und Ordnung zu richten. Weil hinter der Messerattacke von Zürich ein religiöser Konflikt steht und die Tat antisemitisch motiviert ist, erhält sie einen grösseren gesellschaftlichen Resonanzraum.

Den grassierenden Antisemitismus sehen Sie nicht als Ursache?

Doch. Genau wie ein verpeiltes patriarchales Weltbild der Nährboden der zahlreichen Femizide ist, ist hier der Antisemitismus der Nährboden für die Tat. 

Jacqueline Fehr

Jacqueline Fehr

Im April 2015 wurde die Winterthurerin in den Regierungsrat gewählt. Sie leitet die Direktion der Justiz und des Innern und ist damit für das Verhältnis zu religiösen Gemeinschaften zuständig. Von 1998 bis 2015 poli­tisierte die Sozialdemokratin für im Nationalrat. 

Präziser wäre, von einem arabisch geprägten Antisemitismus zu sprechen. 

Ich warne eindringlich davor, das Problem an den Islam zu delegieren. Mit einer «Muslimisierung» des Antisemitismus machen wir es uns zu einfach. Antisemitismus ist ein urschweizerisches Problem, das sich als Konstante durch unsere Geschichte zieht und das sich in allen Bevölkerungsschichten zeigt. Und das letztlich wohl auch tief verankert im Gedankengut von uns allen ist. Da sollte sich niemand etwas vormachen. Wir tun gerne so, als ob in Europa das Problem des Antisemitismus erledigt sei. Dem ist nicht so. Mit unserem eigenen Antisemitismus müssen wir uns viel ernsthafter auseinandersetzen und ihn erkennen. So können wir ihn Schritt für Schritt zurückdrängen: in der Kunst und Kultur, in den Volksschulen und Universitäten, in den Medien und politischen Parteien. 

Inwiefern sind hier auch die muslimischen Religionsgemeinschaften gefordert? 

Die Vereinigung der islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ) hat mit einer vorbildlichen und mutigen Stellungnahme auf die Attacke reagiert. Sie hat den Angriff scharf verurteilt und deutlich gemacht: «Nicht in unserem Namen!» Damit hat sich die muslimische Gemeinschaft exponiert und Hasszuschriften in Kauf genommen. Sie hat sich nicht weggeduckt, sondern die Stimme erhoben. 

Erklärungen klingen gut. Müssten aber die muslimischen Gemeinschaften nicht stärker beobachten, wer sich in Moscheen radikalisiert? 

Das tun sie bereits und zwar sehr gewissenhaft. Wir versuchen sie dabei zu unterstützen. Zum Beispiel mit unserem Pionierprojekt zur Weiterbildung muslimischer Betreuungspersonen und Imame. Und auch mit den Brückenbauern der Stadt- und der Kantonspolizei. Gerade die Zusammenarbeit mit der Polizei ist eng und gut etabliert. Wer darüber hinaus Präventionsleistungen von den muslimischen Vereinen erwartet, muss auch bereit sein, entsprechende finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, so wie sie Sportverbände, Schulen und Kirchen vom Staat ebenfalls erhalten. Wichtig ist auch, dass wir im Kanton Zürich einen sehr gut funktionierenden interreligiösen Dialog haben. Er lebt von engagierten Menschen, die stabile Beziehungen und Freundschaften aufgebaut haben. 

Wie kann das Sicherheitsgefühl der jüdischen Bevölkerung gestärkt werden? Polizeipräsenz vor Synagogen und Gemeindehäusern reicht nicht aus. 

Der Schutz der Gebäude durch Sicherheitskräfte ist wichtig. Doch es braucht mehr. Viele Jüdinnen und Juden sind fast täglich mit Antisemitismus konfrontiert. Sie werden schräg angeschaut, angepöbelt und auch angefeindet. Die Angst vor Übergriffen war für sie schon vor der Tat ein ständiger Begleiter. Der antisemitische Angriff fällt damit auf den Boden zahlreicher antisemitischer Alltagserfahrungen. Diese Kombination löst in breiten Kreisen grosse Ängste und Verunsicherung aus. Wer schon vorher das Gefühl hatte, auf brüchigem Boden zu stehen, sieht nun tatsächlich ein tiefes Loch aufgehen. Wir müssen nun sicherstellen, dass unser Kampf gegen Antisemitismus nicht nur Kulisse mit ein paar zusätzlichen Polizisten für die jüdischen Einrichtungen ist. Vielmehr müssen wir den Tatbeweis erbringen, indem wir uns alle im Alltag mehr gegen Hass, Hetze und Ausgrenzung engagieren. 

Sie sind im Regierungsrat nicht nur für Beziehungen zu den Religionsgemeinschaften zuständig, in Ihrer Direktion ist auch das Justizwesen angesiedelt. Hilft Repression im Kampf gegen Radikalisierung? 

Verschärfungen im Strafrecht braucht es nicht. Gerade das Jugendstrafrecht hat eine reichhaltige Werkzeugkiste, um junge Menschen auf den richtigen Weg zu führen. Zusätzliches Engagement braucht es aber in der Prävention. Hier sind verschiedene Stellen gefordert. Und insbesondere müssen die Zusammenarbeit ausgebaut und das Netz enger geknüpft werden.