Recherche 24. Januar 2023, von Marius Schären

Betteln als Arbeit zu sehen, hilft beim Umgang damit

Gesellschaft

Angebettelt werden ist oft unangenehm. Was tun? Von den Betroffenen gibt es nützliche Tipps und vom Theologen einen einfachen Grundsatz. Das Umsetzen bleibt aber herausfordernd.

«Jeder Mensch kommt einmal in eine existenzielle Lage, in der er seine Hand hinhalten muss.» Was Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster in Zürich, im Brustton der Überzeugung sagt, bezieht sich nicht auf das Betteln auf der Gasse.

Aber der 59-jährige Theologe und Spezialist für Diakonie, mit der das helfende Handeln gemeint ist, nennt seine Aussage als Grund, warum Angebettelte sich oft schwertun in Begegnungen mit sichtbar Bedürftigen im öffentlichen Raum: «Es berührt uns unangenehm, weil wir es stets beschämend finden, die Hand hinzuhalten, obwohl wir alle irgendwann einmal andere werden um Unterstützung bitten müssen.»

Jeder Mensch wäre gleich

Heute reagiere er nach Gefühl, sagt Sigrist. Manchmal gebe er etwas, manchmal beginne er ein Gespräch. «Ich glaube, ich bin näher an der Lebensrealität, wenn ich in der Situation meine Betroffenheit umsetze.» Vor 20 Jahren aber habe er niemandem etwas gegeben. «Es stimmte damals nicht überein mit meiner Vorstellung von professioneller Unterstützung», resümiert der Pfarrer. 

Wenn alle einen Franken geben würden, müsste ich nicht mehr betteln. Aber ich finde es auch schön, wenn man mich grüsst oder anlächelt.
«Zwerg», Bettelnder in der Berner Innenstadt

Doch aus der christlichen Ethik heraus seien im Umgang mit Menschen grundsätzlich Berührungshemmungen fehl am Platz: «Jeder Mensch ist gleich vor Gott.» Schliesslich könne er nur von Gott reden, wenn er dabei auch jedem Menschen ins Gesicht schauen könne, der einen «Stutz» von ihm wolle. Aber das sei herausfordernd, räumt der Pfarrer ein: «Jegliche Bevormundung zu unterdrücken, misslingt mir selbst immer wieder.»

Lieber sitzen als ansprechen

Dabei sind die Bedürfnisse und die Wünsche von Bettelnden nicht anspruchsvoll. Das zeigt das Gespräch mit «Zwerg», der nur seinen Spitznamen in der Zeitung lesen will. Der 46-Jährige sitzt in der Berner Innenstadt, seinen Hund neben sich, einen Becher vor sich. «Angesprochen werden mögen die Leute gar nicht.» Deshalb bleibt der Wagenplatzbewohner an seinem Ort sitzen. Und die Arbeit gefalle ihm, er beobachte gern Menschen.

«Wenn alle einen Franken geben würden, müsste ich nicht mehr betteln», meint er lachend. Und fügt ernsthaft hinzu: «Es ist auch schon schön, wenn man mich nur grüsst oder anlächelt.» Werde er einfach als Mensch wahrgenommen, sei er zufrieden. Mit den Leuten rede er zwar gern, sagt Zwerg. Aber er bitte dann jeweils, dass man sich neben ihn stellt und nicht vor ihm stehen bleibt. Schliesslich möchte er etwas verdienen. Dass ihn Passanten auffordern, er solle doch arbeiten gehen, oder gar seinen Becher umstossen, komme immer wieder vor. Aber das stecke er einfach weg.

Unterschiedliche Regeln je nach Gemeinde

Betteln ist in der Schweiz zum Teil verboten, zum Teil erlaubt. Bis auf Gemeindeebene gelten unterschiedliche Regelungen. 15 Kantone verbieten das Betteln generell oder nur sogenannt «aufdringliches Betteln». Selbst in einigen Gemeinden ist es nur an manchen Stellen oder zu bestimmten Zeiten untersagt. Laut einem Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Januar 2021 verletzen absolute Verbote aber die Menschenrechtskonvention. Und als im Dezember der Berner Gemeinderat vor «organisierten Bettelbanden» warnte, protestierte die kirchliche Gassenarbeit. «Für bandenmässiges Betteln gibt es keine Be­lege», sagt Sozialarbeiterin Nora Hunziker. Und kritisiert, dass bettelnde Menschen aus einer bestimmten Region als Kriminelle bezeichnet würden.

Warum ist es vielen Menschen unangenehm, Bettelnden zu begegnen? Nora Hunziker findet die Frage spannend. Die Sozialarbeiterin bei der kirchlichen Gassenarbeit Bern sagt: «Warum kommt man auf die Idee, gemein zu sein gegenüber Bettelnden?» Hunziker vermutet zwei Hauptgründe: Die Begegnung zeige einem, dass es Armut gibt, und zwar da, wo man selbst sei. «Das macht einem auch bewusst, dass man selbst arm sein könnte.»

Darauf deutet die Frage hin, die Bettelnden oft gestellt wird: wozu sie das Geld brauchen. Für diese Frage gebe es aber eigentlich keinen Grund, sagt Hunziker. «Wir fragen ja auch sonst niemanden, was sie oder er mit Geld macht.»

Gebt Geld, wenn ihr wollt und etwas habt. Bleibt anständig, wenn ihr nichts gebt. Und fragt nicht nach, wofür das Geld gebraucht wird.
Nora Hunziker, Sozialarbeiterin bei der Kirchlichen Gassenarbeit Bern

In der Gassenarbeit rufen oft Leute an und fragen nach Tipps im Umgang mit Menschen, die betteln. Dann verweist Hunziker jeweils auf einen Instagram-Beitrag. Das Profil Sozialhilfe_kritisiert nenne kurz und einfach das Wichtigste, sagt die Sozialarbeiterin. «Gebt Geld, wenn ihr wollt und etwas habt. Bleibt anständig, wenn ihr nichts gebt. Und fragt nicht nach, wofür das Geld gebraucht wird.» Mit jemandem etwas kaufen zu gehen, mache wenig Sinn. «Die Autonomie darüber, was man mit einem Verdienst machen will, ist für alle wichtig.»

Das Wohl der Schwachen

Christoph Sigrist sieht zwar bei der Kirche grosses Potenzial, Bettelnden gut zu begegnen. Neben dem Menschenbild, das von der Gleichheit aller Menschen ausgeht, hätten viele Kirchgemeinden zentrale Räume sowie «ein unglaublich gutes Freiwilligennetz». Und die Orientierung am Wohl der Schwachen sei seit 2000 Jahren ein Erfolgsrezept der christlichen Gemeinden.

Doch sei ein wachsames Gewissen notwendig. «Hehre Werte allein schützen die Kirche nicht vor Bereicherung und Machtmissbrauch.» Und schliesslich bestehe für die Reformierten in der heutigen pluralen Gesellschaft als Minderheit die Herausforderung, ihren Auftrag weiterhin umzusetzen.