Kultur 04. Juli 2024, von Isabelle Berger

Reformierte Pioniere des Gemüsebaus

Landwirtschaft

Die aus Frankreich geflüchteten Hugenotten spezialisierten sich hierzulande als Gemüsebauern.  Ein Restaurant lässt kosten, was sie an Gemüsen und Gerichten mitbrachten.

Vor rund 300 Jahren kamen bei ei nem Schiffsunglück auf der Aare zwischen Aarberg und Lyss 111 hu genottische Flüchtlinge ums Leben. Diese Geschichte kann man nun auf einer Wanderung nacherleben und dabei viel über die Hugenotten er fahren (siehe Box). Wussten Sie, dass die Hugenotten beispielsweise den schweizerischen Speiseplan erwei terten? Auch durch sie verbreiteten sich heute wohlbekannte Gemüse wie Artischocken, Lauch, Krautstie le, grüne Bohnen, Spargeln, Lattich und Kartoffeln, aber auch der weni ger bekannte Kardy. 

Revolutionierter Gemüsebau 

Kosten kann man diesen im Restau rant Weisses Kreuz in Lyss, in des sen Vorgängerbau die Überlebenden des Unglücks laut Überlieferung ver köstigt wurden. Der heutige Kü chenchef Marc Bernhard hat ein hugenottisches Menü zusammen gestellt: hugenottische Gemüsesor ten inklusive Kartoffeln mit Kardy Gratin und Longeole Wurst. Letztere zwei sind in Genf das traditionelle Essen beim Volksfest Escalade und zu Weihnachten. Und das kommt nicht von ungefähr.

Ihres reformierten Glaubens we gen verfolgt, flüchteten die Huge notten im 16. und 17. Jahrhundert in zwei Wellen aus Frankreich. Rund 22 000 Personen siedelten sich ge mäss dem Musée Protestant dauer haft in der Schweiz an. Besonders wichtig ist dabei Genf. In Plainpa lais vor den Toren der Stadt erhiel ten die Flüchtlinge Land zur Verfü gung gestellt. Dieses machten sie urbar und bauten dort Gemüse an – im grossen Stil.

Wanderung zum Thema

Das Schiffsunglück von Lyss nahm die Stiftung Via Hugenotten zum Anlass für einen thematischen Wanderweg. Seit diesem Frühling können Interessierte von Aarberg nach Lyss den Spuren der Hugenotten folgen. Eine multimediale App macht das Bootsdrama wieder erlebbar und vermittelt historische und kulturelle Fakten zu den Hugenotten. Die 6,5 Kilometer lange Strecke ist Teil der Kulturroute des Europarats «Auf den Spuren der Hugenotten und Waldenser», die von Südfrankreich nach Hessen führt.

www.via-huguenots.ch

«Die Hugenotten begründeten den gewerblichen Gemüsebau in der Schweiz», erklärt der Theologe und Botaniker Otto Schäfer. Bis dahin pflanzten die Leute Gemüse nur im Nebenerwerb auf kleinen Flächen an. «Die Errungenschaft der Hugenotten ist die Spezialisierung zu Gemüsebauern mit allen Vorteilen der Professionalisierung», so Schäfer. Bis ins 19. Jahrhundert sei die ganze Schweiz mit Gemüse aus Genf und der Westschweiz beliefert worden. Danach erst breitete sich der kommerzielle Gemüsebau im ganzen Land aus.

Ungewohnte Speisen 

Dass die Hugenotten aber «den» Kardy oder «den» Blumenkohl – also ganze Gemüsearten – in der Schweiz eingeführt hätten, stimme nicht. Es gehe um einzelne Sorten, die höchst wahrscheinlich auf Züchtungen hugenottischer Bauern zurückgehen. Es gibt bis heute Sorten, die «Genf» oder «Plainpalais» in ihrem Namen tragen, etwa die Kardysorte «Silbriger, Stacheliger von Plainpalais». Ausserdem wiesen Spottnamen wie die «Bohnenfresser» in Deutschland oder die «Lauchpflanzer» in Genf darauf hin, dass die Hugenotten diese Gemüse kultivierten und die übrige Bevölkerung dies als etwas Besonderes wahrnahm. Die Hugenotten waren vermutlich die Ersten, welche die grünen Bohnen als ganze Schote assen. Üblicherweise ass man damals nur die Samen. 

Für die Geschäftstüchtigkeit der Einwanderer im Gemüsebau habe ihr protestantischer Glaube wohl eine Rolle gespielt, sagt Schäfer. So zeigt sich Gott gemäss dem Reformator Johannes Calvin in der Schönheit der Schöpfung. «Das Schöpfungslob erscheint auch in den Psalmen, den einzigen Kirchenliedern der Hugenotten; das prägt die Menschen.» Zudem sei der biblische Urvater Adam Ackerbauer gewesen, was als die eigentliche Berufung des Menschen angesehen worden sei und zu einer Aufwertung des Berufs geführt habe. 

Und weiter: «Um im Exil bestehen zu können, mussten sich die Hugenotten organisieren und gegenseitig helfen», führt Schäfer aus. Es entstanden soziale Einrichtungen wie Armenspeisung oder eine Brennholzgesellschaft, die Arme mit Holz versorgte. Die Hugenotten hätten die dabei erlernten Fähigkeiten dann wohl auch für ihre wirtschaftlichen Aktivitäten genutzt. Etwa bei den Produktions- und Lieferketten im Gemüsehandel.

Dass Urvater Adam Ackerbauer war, wertete den Beruf auf.
Otto Schäfer Theologe und Botaniker

Wie das hugenottische Gericht bei seinen Gästen ankommt, weiss Küchenchef Marc Bernhard noch nicht. Es steht erst seit Kurzem auf der Karte. Ihm persönlich mundet aber die Longeole Wurst mit ihrem klar wahrnehmbaren Geschmack nach Fenchelsamen. Der Kardy jedoch sei geschmacklich neutral. «Aber wenn man ihn gut würzt, er gibt er ein sensationelles Gratin», schwärmt Bernhard. 

Da Kardy nur von Dezember bis März Saison hat, verwendet er eingemachten Kardy, den er jeweils bei einem Bauern in Genf bestellt. Er selber habe noch nie das zweifelhafte Glück gehabt, frischen Kardy zu verarbeiten, meint Marc Bernhard scherzhaft, denn: «Wegen der vielen Stacheln muss das sehr unangenehm sein.»

Rezept für Genfer Kardy-Gratin

Man nehme pro Person 500 g frischen oder 250 g eingemachten Kardy, 30 g Butter, 1 EL Mehl, 3,5 dl Milch, 60 g geriebenen Käse, Salz, Pfeffer und Muskatnuss. Frische Kardystängel schälen, in 6 cm lange Stücke schneiden und sie in einem mit 1 dl Milch angereicherten, leicht gesalzenen Wasserbad rund 30 min weich kochen. Das Wasser ausschütten und eine Tasse davon für die Sauce zurückbehalten, auch bei eingemachtem Kardy. Für die Béchamelsauce die Butter schmelzen, darin das Mehl leicht anrösten und mit 2,5 dl Milch unter ständigem Rühren aufgiessen. Das Kochwasser des Kardy dazugiessen und 50 g Käse, Salz, Pfeffer und Muskatnuss beigeben. Die Sauce sollte dickflüssig sein. Anschliessend die Kardystücke in eine eingefettete Gratinform legen und mit der Sauce übergiessen. Den Rest des Käses und einige Butterflocken darüberstreuen. In der Mitte des auf 180° C vorgeheizten und auf Unter-/ Oberhitze eingestellten Ofens 20 bis 25 min backen.