Wie in Ihrem Bestsellerroman «Der Vorleser» geht es auch in Ihren neusten Erzählungen «Abschiedsfarben» um Lebensbilanzen und um Schuld. Haben Sie persönlich sich jemals schuldig gemacht?
Bernhard Schlink: Natürlich, das haben wir doch alle. Sie nicht?
Doch. Wie gehen Sie damit um?
Indem ich älter werde und auf früher zurückblicke, sehe ich, wo ich Menschen gekränkt oder verletzt habe. Manchmal wurde mir verziehen, manchmal nicht, manches hatte ich lange vergessen oder verdrängt – ich erinnere es wieder und muss mich dazu verhalten. Ich kann meine Rolle kleinreden, die der anderen hervorheben – oder mir meine Schuld eingestehen.
Ein unangenehmer Prozess.
Es geht darum zu verstehen: Warum habe ich getan, was ich getan habe? Was erfahre ich daraus über mich? Was eröffnet sich dadurch für mich? Soll ich den Menschen, den ich gekränkt oder verletzt habe, vielleicht noch spät um Verzeihung bitten? Oder soll ich, was damals war, ruhen lassen? Der Umgang mit Schuld beginnt damit, sie nicht zu verleugnen, nicht zu verdrängen, sondern anzuerkennen. Nicht dass das andere nicht auch funktionieren könnte – einige Geschichten in «Abschiedsfarben» beschreiben es.
Fehler und Schuld anzuerkennen, steht stark im Widerspruch zur allgegenwärtigen Selbstoptimierung. Passt das in unsere Zeit?
Wenn es nicht in die Zeit passt, umso schlimmer für die Zeit. Schuld gehört zur menschlichen Existenz. Sie zu verleugnen oder zu verdrängen, tut nicht gut. Man macht sich etwas über sich vor, man sieht sich nicht, wie man ist. Wir alle werden schuldig, daher brauchen wir, dass uns verziehen wird, und müssen lernen zu verzeihen. Und wie man von der Vergangenheit Abschied nehmen kann, kann man auch von vergangener Schuld Abschied nehmen. Abschied ist oft schmerzlich. Abschied kann aber auch befreien.
Sie sind in einem Pfarrhaushalt aufgewachsen. Beide Eltern waren Theologen. Welche Rolle spielte die Religion für Sie als Kind?
Sie war Teil meiner Lebenswelt. Beim Frühstück wurden die Losungen der Brüdergemeinde gelesen, nach dem Abendessen ein Kapitel aus der Bibel. Der Sonntag begann mit einem Bach-Choral, dann gingen wir in die Kirche. Als Kind mochte ich diese Rituale, ich mochte ihre Verlässlichkeit. Dann gab es noch die Gäste, die mein Vater zum Mittagessen brachte, Kollegen und Studenten, mit denen über Theologisches gesprochen wurde, und es gab meine Tante, die als Mutter Basilea einen Orden gegründet hatte. Religion und Theologie waren ständig präsent.
Und wie ist Ihr Verhältnis heute zur Kirche und zum Glauben?
Ich glaube nicht an Gott. Ich bin mit Gott aufgewachsen, gewissermassen wie mit Onkel Heini: Er gehörte zur Familie, war nicht da, aber doch ein Teil von uns. Den Platz, den der Glaube ihm zumisst, hat Gott für mich nie eingenommen. Aber ich gehöre weiter zur Kirche, der Gemeinschaft – nein, nicht der Heiligen, aber von Menschen, die guten Willens sind. Ich finde gut, dass es die Kirche als eine Institution gibt, die keine partikularen Interessen, keine Klientel und keine Gruppe vertritt, sondern sich in Verantwortung für alle weiss.
Sie finden also, die Kirche macht ihre Sache gut?
Was an ihr gut ist, sagte ich gerade. Aber nach einem Gottesdienstbesuch denke ich oft: Ich war zum letzten Mal da. So viele Predigten sind so flach, so wenig geistlich, so bemüht, Anschluss an den Zeitgeist zu finden. Wenn sie das gut machen, sind es Texte, die auch im Feuilleton stehen könnten. Und wenn sie den Menschen existenziell ansprechen wollen, versuchen sie es in den Begriffen und mit den Versprechen der Psychotherapie. Mir ist klar, dass es ungeheuer anspruchsvoll und schwierig ist, das Eigene des Glaubens in Worte zu fassen. Aber wenn es nicht gelingt, frage ich mich: Was solls?
Was fehlt denn?
Die Kirche muss bieten, was andere nicht bieten. Wie gesagt, Gott ist für mich nicht so nahe, dass ich sagen könnte, wie er anderen nahezubringen ist. Aber mit ihm müssen Predigten doch zu tun haben. Die Befreiung in der Begegnung mit ihm muss etwas anderes sein als die Befreiung in der Psychotherapie, in Yogaretreats oder in Meditationskursen.
In Ihren Erzählungen geht es auch um das Sterben und den Tod. Inwiefern beschäftigen Sie die Themen auch persönlich?
Der Tod kommt gewiss, und wenn wir älter werden, gewärtigen wir, dass er jederzeit kommen kann – oder wenn wir entscheiden, dass es Zeit ist. Mehrere meiner Schweizer Verwandten haben sich das Leben genommen, und so versteht sich auch für mich, dass es hier eine Entscheidung zu treffen gibt. Ich habe keine Eile. Aber manche Menschen müssen ihre späten Jahre in einer Weise zubringen, von der ich weiss, dass ich sie nicht will.
Sie haben schon viele nahe Menschen verloren.
In meinem Alter häufen sich die Abschiede von Geschwistern, Freunden und Weggefährten. Manchmal bin ich ihnen im Abschied noch einmal nah und erlebe nicht nur die Trauer um den Verlust, sondern zugleich auch eine liebevolle Verbundenheit mit ihnen.