"Kantonalkirche baucht eine stärkere Gewichtung"

Dekanin

Cornelia Camichel Bromeis vermied es, sich als Feministin zu bezeichnen. Der Dekanin war es aber stets wichtig, Genderaspekte zu reflektieren und einzubringen.

Was war Ihr herausragendster Moment als Dekanin in Graubünden?
Cornelia Camichel Bromeis: Jedes Jahr tagt die Synode an einem anderen Ort. Dieses Zusammenarbeiten mit den Kirchgemeinden, den lokalen Vereinen und Gruppen, die Gastfreundschaft, die uns immer entgegengebracht wird, das war für mich jeweils ein Höhepunkt.

Ist die Bündner Kirche modern genug, um gesellschaftlichen Veränderungen zu begegnen?
Die Bündner Kirche ist stark dezentral orientiert. Eine zentrale Kirche wird sofort als «zentralistisch» bezeichnet. Heute genügt es aber nicht mehr, wenn einzelne Kirchgemeinden auf Veränderungen wie den Klimawandel oder die Migration reagieren. Wenn Kirche relevant sein will, muss sie solche Themen ins Zentrum stellen. Dazu braucht es eine stärkere Gewichtung der Kantonalkirche. Als Dekanin waren mir oft die Hände gebunden, als Pfarrerin kann ich mehr agieren. Wenn ich sehe, wie die Jugend die Last der aktuellen Probleme teilweise kaum ertragen kann, müssen wir als Kirche Verantwortung übernehmen. Sonst vernachlässigen wir unseren Seelsorgeauftrag.

Gab es Situationen in Ihrem Amt, die Sie nur als Frau so erlebten?
Ja, es gab Genderaspekte. Bei Wirtschaftsthemen zum Beispiel war es mir wichtig, immer auch den «Care»-Aspekt mitzubedenken. Damit eckte ich anfangs an. Heute sind mehr Frauen in kirchlichen Gremien vertreten, und «Care»-Themen sind besser vertreten. Meiner Meinung nach könnte sich die Bündner Kirche dafür stärker einsetzen. Wenn man es zu sehr allen recht machen will, besteht die Gefahr, dass nur noch die lauten, populistischen Stimmen zu hören sind.

Was bedeutet für Sie Kirche?
Für mich ist Kirche der Ort, wo ich Menschen – auch ausserhalb der Kirchenmauern – antreffe, die meinen Horizont erweitern, die mit mir die Liebe zu den Menschen und der Schöpfung teilen. Kirche bedeutet für mich auch, einander zu akzeptieren, auch wenn wir theologisch nicht derselben Meinung sind. Und spüren, dass man einen gemeinsamen Boden hat, der uns trägt. Kirche findet alltäglich statt, morgens beim Einkaufen genauso wie abends beim Zähneputzen.

Wo finden Sie Erholung?
Der Begriff Erholung gefällt mir. Weil ich mir tatsächlich Kraft hole. Meine Kraftquelle ist die Predigtvorbereitung. Ich erachte es als Privileg, dass mir als Pfarrerin noch heute zugestanden wird, Glaube und Gesellschaft anhand der Bibel und unserer Traditionen immer wieder zu reflektieren. Damit versuche ich, auch auf meine eigenen, grundlegenden Fragen Antworten zu finden. Dieses Reflektieren vermisste ich ein bisschen als Dekanin. Erholung finde ich auch im Dialog. Ich erhole mich, wenn mir jemand im Gespräch andere Horizonte eröffnet, mir hilft, die Wahrnehmung zu schärfen. Oder wie Martin Buber es ausdrückte: Ich brauche das Du, um selber «ich» sagen zu können.

Was sind Ihre Ambitionen für das neue Amt in Zürich?
Unsere gesellschaftlichen Strukturen sind ja aus der Wahrnehmung von Männern gewachsen. Ich will versuchen, die Sichtweise von Frauen stärker in den Dialog einzubringen, andere Standpunkte zu setzen: weniger das Heldenhafte, mehr die Verletzlichkeit ins Zentrum zu stellen. Nicht als individuelles, aber als strukturelles Thema. Als Kirche haben wir ein Fundament, auf das wir uns berufen sollten. Schwäche einzugestehen, ist eine Stärke.

Cornelia Camichel Bromeis, 50

Aufgewachsen in Tiefencastel, besuchte die Rätoromanin das Lehrerseminar in Chur. Danach studierte sie Theologie in Basel, Bern und Freiburg, war Pfarrerin in Chur und Davos und trat im 2014 als erste Frau das Amt der Dekanin der Bündner Synode an. Sie ist verheiratet und dreifache Mutter. Ab August 2021 arbeitet sie als erste gewählte Pfarrerin in der Altstadtkirche St. Peter in Zürich.