Recherche 12. Dezember 2019, von Christian Kaiser

Der Guru im grünen Strickpullover

Porträt

Er wird zu den wichtigsten spirituellen Führern weltweit gezählt. Gleich hinter dem Papst und dem Dalai Lama. Jetzt war er in der Schweiz.

So etwas darf man ja heute gar nicht mehr bringen: Ein Männlein sitzt weit vorne und redet. Zwei Stunden lang. Niemand stellt eine Frage. Keine animierten Powerpoint-Slides. Kein Herumgehüpfe, null Performance. Ein einziger Monolog. Und trotzdem am Ende Standing Ova­tions. Der Saal, Fassungsvermögen 3000, ist proppenvoll, entweder hat man die Tickets schon lange erstanden oder vor Kurzem von 160 Franken an aufwärts hingeblättert. Eckhart Tolle live zu sehen, und dazu noch auf Deutsch, ist eine seltene Gelegenheit. Seit 25 Jahren wohnt er in Vancouver, pendelt zwischen Kanada und Kalifornien.

Millionenfach angeklickt
Nun sitzt er in Winterthur, im olivgrünen Strickpullover und weissen Jackett. Wie er die Worte wählt und setzt, ganz in sich gekehrt innehält, über sich selber lacht – das sieht man auch aus den hintersten Reihen auf dem riesigen Screen. Es ist ein bisschen, als würde man hier kollektiv ein sehr langes Youtube-
Video schauen – von denen gibt es ja zuhauf, und sie werden millionenweise angeklickt: Eckhart Tolle mit dem Dalai Lama oder mit Neale Donald Walsch («Gespräche mit Gott»), Eckhart Tolle bei Oprah Winfrey. Die grosse amerikanische Talkmasterin ist ein bekennender Fan von Tolle, hat sein Buch «immer auf dem Nachttisch».
Das Publikum lauscht gespannt und hört, wie Tolle ausführt, dass es darum gehe, der Stille zu lauschen. Denn: «Im Moment, in dem ich mir der Stille bewusst werde, denke ich nicht.» Und diese Identifikation mit dem Fluss unserer Gedanken sei ja das eigentliche Problem. Der Mann ist ein Phänomen, er ist einfach. Sich selbst genug. Muss nichts anderes sein, als das, was er ist: ein älterer Herr, der seine Weisheit zum Besten gibt. Wie man das Ego überwindet, indem man sich auf den gegenwärtigen Augenblick konzentriert … Vergangenheit und Zukunft sind nur Illusion, und das Verstandes-Ich mit seinem Gedankengeschwafel hält einen nur ab von dem, was alles schon da ist: Freiheit, Friede, Freude. «Die Freude des Seins, der Friede Gottes», sagt Tolle.

Ulrich Leonard Tölle
2011 belegte Eckhart Tolle auf der Liste der einflussreichsten spirituellen Führer weltweit Platz 1. Gegenwärtig rangiert er gemäss dem jährlich erstellten Ranking der britischen Watkins-Review etwas hinter dem Papst und dem Dalai Lama auf Platz 4. Begründung für seine Top-Platzierung: «Eckharts tiefgründige und doch einfache Lehren haben unzähligen Menschen auf der ganzen Welt geholfen, inneren Frieden und  Erfüllung zu finden.» In seinen Reden und Büchern bezieht sich Tolle genauso auf Buddhas Lehren oder die vedischen Schriften, wie er Jesus zitiert. Er fokussiert auf die Gemeinsamkeiten, ohne das christliche Erbe zu übersehen. Schliesslich ist er 1948 in Deutschland als Ulrich Leonard Tölle geboren. Und hat sich nach seiner Wandlung zum spirituellen Lehrer selbst den Vornamen Eckhart gegeben, den des christlichen Mystikers aus dem 13. Jahrhundert. Aber: «Die Essenz aller Religion ist», so Tolle, «eine einzige, zeitlose spirituelle Lehre.»